Hugo von St. Victor: Gebet

Unser Elend und Gottes Erbarmen sind zwei Flügel, auf denen sich unser Gebet zum Himmel emporschwingt. Bedenken wir zuvörderst, wie kurz unser Leben, wie schlüpfrig der Weg, wie ungewiß die Stunde des Todes ist. Bedenken wir, daß wir weinend in dies Leben traten, mit Schmerz darin wandeln, mit Jammer davon scheiden werden. Bedenken wir, mit welchen Bitterkeiten Alles, was auch noch so reizend erscheint, untermischt, und wie trügerisch und verdächtig ist, was die Weltliebe gebiert. Denken wir an die unzähligen Uebel, welche die Menschheit überhaupt belasten, denken wir an die Gefahren insbesondere, die uns bedroht haben. Erinnern wir uns, wie viele Sünden wir von Jugend auf begangen, wie viele eitle Arbeit wir gethan, wie oftmals wir uns vergebens und um Nichts abgemühet, was wir gefunden und was wir verloren haben, wo wir liegen und von wo her wir gefallen sind. Was kann uns inständiger zum Gebete auffordern, als solche Betrachtung? Aber was mag auch andrerseits uns lieblicher dazu anlocken, als das Gedächtniß an die Barmherzigkeit des Schöpfers, die wir immerdar erfahren haben? Bedenken wir, wie viel Gutes er uns gegeben, und aus wie vielem Unglück er uns gerissen hat. Bedenken wir, wie er uns, wenn wir ihn vergaßen, wieder an sich erinnerte, wenn wir von ihm gegangen waren, wieder zu sich rief, wenn wir kamen, gnädig aufnahm; wie er uns vergab, wenn wir Reue zeigten, wie er uns hielt, wenn wir standen, wie er uns aufrichtete, wenn wir fielen, wie er aus unsrer bösen Lust bittres Leid und aus dem bittern Leide wiederum himmlischen Trost bereitete. Wahrlich, betrachten wir Solches, so muß unser Herz zum Gebet entflammt werden.