Geiler von Kaysersberg – Selig bist du

Selig bist du, so du dein Gemüth nimmer an die Dinge dieser Welt heftest. Gedenke, wo du bist! Sprichst du: Wo bin ich denn? Du bist zum Ersten im fremden Lande, da du kein Bleiben hast, sondern immer fort und fort mußt. Du bist zum Andern im Thale der Thränen. Wie die Kinder Israel an den Flüssen Babels saßen, ihre Harfen an den Weiden aufgehangen hatten und weineten, so sitzen die andächtigen Seelen neben den Flüssen der Vergänglichkeit dieser Welt, die an ihnen vorüberrauschen. Sie klagen, wenn sie die Unruhe fühlen, dadurch sie an der Betrachtung Gottes gehindert werden, sie trauern, wenn sie gewahren, wie so Viele jämmerlich in den Gewässern ertrinken, sie weinen, wenn sie an die ferne Heimath des himmlischen Jerusalems gedenken. Wo bist du zum Dritten? In dem Reiche und dem Schatten des Todes. Wenn du den Schatten eines Menschen erblickst, so weißt du, daß du nicht weit mehr von ihm bist. Siehe nun, so nahe ist dir der Tod, daß sein Schatten immerdar auf dich scheint!

Geiler von Kaysersberg – Gebet

Das Gebet wirkt Zweierlei in dir. Erstens zerstreut es den Nebel, der das Haupt der Seele, die Vernunft, umhüllt und verfinstert hat, daß sie nicht aufschauen kann zu Gott dem Herrn; es schärft deinen Verstand und erfrischt dich mit lebendiger Hoffnung. Zweitens stärkt es den Willen zu allen Tugenden, daß du fromm und willig wirst, viel zu leiden, wenn es Gottes Wille ist. Es giebt keine kräftigere Arznei wider allen Mangel und alle Anfechtung, als ein andächtiges und herzliches Gebet.

Geiler von Kaysersberg – Gebet

Wenn dir Himmel und Erde zu eng ist, wenn du nirgends dich ruhig anlehnen und halten kannst, wenn du in dem heißen Ofen der Anfechtung sitzest, so gieß aus zu Gott ein andächtiges, reines, inbrünstiges Gebet aus der Tiefe deines Herzens. Dann wird dir Gnade und Geduld gegeben werden, daß du ausharren magst, dann wird kühler Himmelsthau auf dich herabfallen, der die grimmige Hitze löscht, der Seelen Angst und Betrübniß mildert.

Geiler von Kaysersberg – Nächstenliebe

Nicht um Nutzen oder Gaben, nicht um Gesellschaft oder Vermögen sollst du deinen Nächsten lieben, wie die Juden und Heiden auch thun; sondern in Gott sollst du ihn ansehn, sollst bedenken, daß er von Gott geschaffen und nach ihm gebildet ist, daß er mit dir durch das schmerzliche Leiden und den bittern Tod Christi erlöset ist, und daß er mit dir auch das ewige Leben erlangen und besitzen soll. Liebst du so deinen Nächsten als dein Mitgeschöpf, als deinen Miterlösten und als deinen Miterben, dann erst hast du ihn lieb in christlicher Liebe.

Geiler von Kaysersberg – Wachstum

Gute Menschen gleichen guten Bäumen. Ihre Wurzel ist ein gutes Gewissen, ihr Stamm ein rechtschaffner Wille; sie sprossen Blätter guter Worte, treiben Blüthen heiliger Gedanken und tragen Früchte guter Werke. Sie achten sich selber für Nichts, sondern, voll von Früchten, neigen und biegen und demüthigen sie sich bis in die Erde, ja sie bedürfen, daß man sie unterstütze und tröste, damit sie nicht gar verzagen. Ganz anders hält es sich mit den hoffärtigen Menschen. Wie verfluchte und verdorrte Bäume entbehren sie alles Saftes der Gnade und der Liebe. Sie spreizen sich hoch, sind aber allezeit dürr, und was sie gebären, sind Wurmnester und Spinngewebe.

Geiler von Kaysersberg – Der helle Spiegel

Nimm vor dich den hellsten Spiegel aller Tugend und Heiligkeit, das Leben Jesu Christi, der darum vom Himmel gekommen ist, daß er uns voranginge in guten und heiligen Sitten, und daß wir seine Gestalt in unser Herz schrieben. Wie demüthig war er gegen alle Menschen, wie liebevoll und freundlich gegen seine Jünger, wie mäßig im Essen und Trinken, wie barmherzig gegen die Armen, wie unbekümmert um zeitliches Gut! Welche Züchtigkeit leuchtete aus seinem göttlichen Angesichte, wie viel Geduld zeigte er unter Schmähungen, wie viel Sanftmuth in seinen Antworten, wie viel Mitleid mit den Betrübten, wie viel Sorge um unser Seelenheil! Solches Beispiel sollst du bedenken und bei allen deinen Worten und Werken zu ihm aufsehen.

Geiler von Kaysersberg – Die Welt gleicht einem Wirtshaus

Die Welt gleicht einem Wirthshause. Wie der Pilger im Wirthshause, so kann auch der Mensch in der Welt nur kurze Zeit verweilen, nach dem geschrieben steht: Wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige such en wir. Ein weiser Pilger jubelt nicht, wenn ihm der Wirth allerlei seine Kost, Gesottenes und Wein aufträgt; er erschrickt vielmehr bei sich selber, weil er wohl weiß, daß er Solches dem Wirth theuer bezahlen muß, und daß ihm Alles angerechnet wird. So sollen auch wir thun, wenn wir sehen, daß uns Gott viele Gaben dargebracht, daß er uns Reichthum, Ehre, Gesundheit oder einen scharfen Verstand und ein starkes Gedächtniß verliehen hat. Wir sollen mit Furcht daran gedenken, daß große Gaben große Bezahlung von uns heischen, und daß wir in der letzten Zeit unseres Hinscheidens aus dieser Welt Gott, dem gerechten Richter, Rechnung für Alles ablegen müssen.

Geiler von Kaysersberg – Bekehrung

Du sprichst: Ich will nur noch eine Weile sündigen, ich kann mich später noch zu Gott kehren, ich habe meinen freien Willen. Aber ach, wie falsch ist diese Hoffnung! Solche Vermessenheit besitzt der Fisch, der in die Reuse fließt, wenn er will, aber nicht wieder herausschwimmen kann, wie er will; eine solche Vermessenheit besitzt der Wolf, der in die Grube fällt, wenn er will, aber nicht wieder emporsteigen kann, wie er will. So hast auch du wohl die Macht, in die Tiefe der Sünde zu versinken, aber du hast nicht die Macht, aus dem Abgrunde derselben dich wieder zu erheben.

Geiler von Kaysersberg, Johannes – Die große Verantwortung

Es ist um einen jungen Menschen wie um ein neues Faß. Womit man es zum erstenmal füllt, darnach schmeckt es beständig. Füllest du es mit edlem Wein, das ist, lehrst du dein Kind in der Jugend alle guten Tugenden, so schmeckt es immer darnach, es gewöhnt sich an das Gute und tut es gerne, auch wenn es alt geworden ist. Ziehe darum dein Kind von frühe auf zu aller Ehrbarkeit, du brauchst dennoch Glück und schönes Wetter, damit es wohl gerate. Füllest du es aber mit wüsten Dingen, so schmeckt es ebenfalls immer darnach, man muß das Faß ausbrennen und ihm viel Leid antun, und dennoch vergeht ihm der üble Geschmack nie mehr ganz.

Der Weg zum Glück
Ein Hausbuch für die christliche Familie
von Pfarrer Gustav Hofelich
C. Rieger’sche Verlagsanstalt. Stuttgart – München