Gilbert von Hoylandia – Wächter der Kirche

Die heiligen Schriftsteller stehen als Wächter der Kirche da. Sie spüren die verschiedenen Gemüthsstimmungen auf, finden die Leidenschaften und Krankheiten, die den Menschen verzehren, und dringen bis zum Grunde aller Gedanken. So oft ich darin lese, fühle ich mich getroffen und ergriffen. Ihre Ermahnungen erschüttern mich, und ich werde verwundet an Stellen, die ich für fest und sicher hielt. Der Schleier der Heuchelei, der Unwissenheit und Vergessenheit wird mir abgezogen, das Kleid eiteln Ruhmes wird mir genommen. In dem Lichte ihrer Gemälde erkenne ich meine Flecken, und unter den Donnern ihrer Worte thut sich das Innerste meines Herzens auf. O wie heilsam ist das für mich! Denn wenn ich keine Schöne mehr an mir gewahren, wenn ich keine Ruhe mehr in mir finden kann, dann zieht mich Liebessehnsucht zu meinem Herrn empor.

Gilbert von Hoylandia – Ewigkeit

Wenn einst der Tag der Ewigkeit anbricht, dann .wird auch die prophetische Leuchte, die uns den Weg in der Nacht zeigt, verlöschen, dann wird auch der Strom des Schriftwortes, der hier noch mit manchen dunkeln Stellen dahin fließt und nur im Spiegel und Räthsel erkennen läßt, versiegen und die reinen Wasser des ewigen Lebens werden allein und ohne Ende fließen. Mit der Sterblichkeit wird das Gewölk schwinden, das uns die Geheimnisse des Himmels verdeckt; in heiterer Klarheit wird die lautere Wahrheit ihr Angesicht vor uns enthüllen, nicht mehr einzelne Lichtblicke, wie sie sich hier zu uns herabstehlen, sondern die volle Sonne werden wir schauen.

Gilbert von Hoylandia – Warum entfernt sich Jesus

Warum scheidet der theure Jesus, warum entfernt er sich von der Seele, die ihn liebt? Erst erregt er die Sehnsucht und dann nimmt er ihr die Wonne. Oder will er etwa ihr Verlangen dadurch heißer und inniger machen? Ja, so ist es. Die ferne Liebe weckt größere Liebe. Wie waren doch die Erscheinungen des Auferstandenen so kurz, so plötzlich, so abgebrochen! Von Einigen wurde er kaum erkannt, als er schon wieder verschwand. So geschieht es noch. Wenn man ihn meint zu halten, so stiehlt er gleichsam seine Gnadengegenwart; verstohlen kommt er, verstohlen geht er wieder, und zu der Höhe, dahin er aufsteigt, können wir ihm, so lange wir noch im Fleische wallen, nicht gleichen Schrittes folgen. Aber wann er wiederkehrt, dann brennt unser Herz in uns, wie es den Jüngern brannte auf dem Wege nach Emmaus. Wie selig ist die Stunde, wo die Seele von seinem Feuerstrom durchflössen und geschmolzen wird! Wie weicht da alle Kälte, alle Härte, aller Starrsinn so plötzlich; wie wächst sie in der Liebe, wie eilt sie in der Sehnsucht, wie glänzt sie in der Wahrheit!