Gerhard Tersteegen – Rat für Angefochtene

Mit Gott wollen wir uns beschäftigen, nicht so viel mit uns selber, auch nicht mit dem Guten und Bösen in uns. Denn in der göttlichen Sonne bemerken wir unseren Stand besser als durch alles Anschauen unserer selbst. Wer viel das Seine oder sich selbst besiehet, der wird entweder kleinmütig oder hochmütig. Wagen wir es nun mit Ihm und geben wir uns, ohne umzusehen, im Leben und im Tod in seine Hand. Lasset uns nur ruhig die Augen schließen und unbesorgt unten im Schiffchen bleiben, wir sind nur Reisende und keine Steuermänner.

Gerhard Tersteegen – Über viele Worte

Betet viel und redet wenig. Der Schwätzgeist ist eine Zerstörung aller christlichen Zusammenwohnungen, eine Auslöschung der Andacht, eine Verwirrung der Gemüter, eine Verschwendung der Zeit, eine Verleugnung der göttlichen Gegenwart. – Viele Worte sind ein Zeichen meist von einem noch zerstreuten Geist: Wer Gott kommt nah, der lernet schweigen und sich in stiller Ehrfurcht beugen.

Tersteegen, Gerhard – Gott muß überall Meister bleiben

Daß Du durch Anfechtungen geübt worden bist, glaube ich Dir gerne. Ohne Proben und Übungen kommen wir nicht zum Ziel. Zwar kommt manches aus eigener Schuld. Gottes unendliche Güte in Christo aber trägt und hilft uns wieder mit wunderbarer und anbetungswürdiger Langmut. Wir könnten’s doch manchmal besser und näher haben, wenn wir fein bei der Herzenseinfalt bleiben und nicht aus guter Meinung zu früh groß und klug sein wollten. Die Absicht ist sicher gut: man will gern fortschreiten in seinem Christentum. Und in dieser Absicht forscht, liest, hört man allerhand, welches wir dann nicht alles fassen, miteinander reimen und verdauen können. Ich weiß, was ich in diesem Stück habe durchmachen müssen. Meine Seele dankt noch bis diese Stunde dem lieben Gott, daß er mich in meinen ersten Jahren vor allerhand Bekanntschaften und Gelegenheiten, so mancherlei zu hören und zu sehen, bewahrt hat.

Darum wundert’s mich nicht, daß Dir der Umgang mit Freunden hie und da keine Befestigung gebracht hat. . . So hab‘ ich’s auch so gern nicht gesehen, wann Du Dir viel und allerhand Arten geistlicher Bücher ausgesucht hast. Gar nicht, als ob ich etwas wider solche Bücher und Freunde hätte. Nur ist nicht alles, was in sich selber gut ist, darum auch für uns gut. Manche auch teure Wahrheit kann uns verwirren oder aufhalten, wann wir sie vor der Zeit wissen wollen (Joh. 16, 12). Gott muß überall Meister und wir seine Schüler bleiben, die sich fein bei der aufgegebenen Lektion halten.

Tersteegen, Gerhard – Was ist Beten?

Keine Kunst in der ganzen Welt ist einfältiger und leichter als recht beten; ja, es ist gar keine Kunst. Und wenn wir meinen, wir könnten nicht beten, das ist ein Zeichen, daß wir noch nicht recht verstehen, was Beten ist. Beten ist, den allgegenwärtigen Gott ansehen und sich von ihm besehen lassen. Was ist nun leichter und einfältiger, ah die Augen aufzutun und das Licht anzusehen, welches uns von allen Seiten umgibt? Gott ist uns weit mehr gegenwärtig als das Licht. In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. Er durchdringt uns, er erfüllt uns, er ist uns näher, als wir uns selber sind. Dieses einfältig zu glauben und sich dessen einfältig, so gut man kann, zu erinnern, das ist Beten. Und wie sollte es auch schwer fallen, sich von einem so gütigen Arzt besehen zu lassen, der schon besser weiß, was uns fehlt, als wir selber wissen!

Wir haben nicht nötig, dieses oder jenes zu bringen, uns so oder anders zu stellen oder allemal viel zu sehen und zu empfinden, wenn wir beten wollen, sondern wir sollen’s nur einfältig und kurz sagen, wie wir sind, und wie wir gern sein wollten. ]a, es ist eben nicht allezeit nötig, daß wir’s sagen, sondern wir sollen’s den allgegenwärtigen, gütigen Gott nur sehen lassen. Aber nicht so obenhin, sondern wir sollen so einige Zeit bei ihm und vor ihm zu bleiben trachten, damit er uns gleichsam recht besehen und heilen möge. Wir müssen ihm nichts andres sagen noch sehen lassen, als was in uns ist, es mag nun sein, was es wolle. Findest du dich nun zerstreut, dunkel, unempfindlich, so sage es Gott einfältig und laß ihn dieses Dein Elend sehen, so hast Du recht gebetet. . . Verleugne viel Deinen eignen Willen und Lüste, so wirst Du im Gebet leicht zurechtkommen, welches der Herr in Deiner und meiner Seele durch seine Gnade wirken wolle!

Tersteegen, Gerhard – Trost auf dem Sterbebett

Findet Dich dieses Blatt noch in dem zeitlichen Elende, so besuche ich Dich hierdurch zum Abschied auf dem Pilger- und Kreuzwege, um uns ewig vor Gott und in Gott wiederzufinden, welches bald geschehen wird. Setze Deine Hoffnung ganz auf die teure Gnade Gottes in Christo Jesu, der gekommen ist, die Sünder selig zu mähen! Suche nichts in Dir selbst, in Jesus ist alles und ewig, was Dich beruhigen und selig machen kann. Alle Deine Sünden und Gebrechen, von Kindheit an bis hierher begangen, sind Dir herzlich leid. Du glaubest, daß Gott um seines lieben Sohnes Jesu willen Dir alle Deine Sünden und Gebrechen überflüssig könne, wolle und werde vergeben und mächtig sei, Dir zu helfen aus allem Deinem Jammer zu seinem ewigen himmlischen Königreich. O du große Gottesgnade in Jesu! O du gründlich beruhigendes Blut meines teuren Erlösers, der um meiner Sünde willen gelitten und gestorben am Stamm des Kreuzes! An dich glaube ich, auf dich leg‘ ich mich, Jesus! Jesus! In der ewig großen Glut deiner erbarmenden Liebe sind alle meine Sünden wie kleine Stoppeln. In diese deine Jesusliebe will ich mich versenken und verlieren, wie ich bin; du kannst mich erlösen, du Menschenfreund!

Du hast Dich in Deinem Leben öfters Jesu ergeben und anvertraut und hast gewünschet, ganz und ewig für ihn zu sein und ihn allein zu lieben und ihm anzuhangen. Das befestigest Du nun nochmals vor der Tür der Ewigkeit mit einem herzlichen Amen. Ja, Jesu, dein bin ich, dein will ich bleiben im Leben, im Sterben und in der ganzen Ewigkeit! Du hast mich dir zum Eigentum erkaufet. Du hast Recht zu meiner Seele. Dir händige ich sie wieder ein als dein Gut. In deine Hände lege ich auf ewig nieder meinen Geist, du getreuer Gott in Jesu! Bewahre du dieses teure Pfand in deiner Hand! Halte du fest, wie du verheißen hast: „Meine Schafe sind in meiner Hand, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ Habe ich dich, o du liebenswürdigstes Wiesen, schlecht geliebet und gedienet auf Erden, so erwarte ich nun von deiner Barmherzigkeit eine Ewigkeit, da ich dich vollkommen lieben, dienen und verehren möge mit allen deinen Heiligen, Jesu, ich beuge mich unter deine Zucht; reinige, bereite und vollende mich! Soll dieses sterbliche Leben hinsinken, so bleibe du mein ewiges Leben und die ganze Herrlichkeit meiner Seele!

So gehe denn hin im Frieden, mein lieber Bruder, und schaue Deinen Heiland! Er stärke, erquicke und helfe Dir durch! ]a, er wird es tun. Er segne Dich aus seinem Heiligtum und begleite Dich durch das Tal des Todes zum Leben, das ewig ist! Amen, Jesus! Amen, Jesus! Jesus, Amen! In diesem Namen grüße und küsse ich Dich nochmals von Herzen und bleibe durch seine Barmherzigkeit nun und ewig

Dein treuverbundener Bruder.

Tersteegen, Gerhard – Stellung zu den Religionsparteien

. . . Ich glaube, daß eigentlich in den Augen Gottes nur zwo Parteien auf Erden seien, nämlich die Kinder der Welt, in welchen die Weltliebe herrschet, und dann die Kinder Gottes, in welche die Liebe Gottes ausgegossen ist durch den Heiligen Geist. Und daß Gott außer diesem auf allen andern Unterschied und Namen gar nicht achtet.
Ich glaube (und wollte Gott, daß mein Glaube in diesem Stück irrig wäre], daß unter allen und jeden Religionsparteien weit die mehresten, sowohl Prediger als Zuhörer, zu der Partei der Welt und des Antichristen gehören, obwohl auch Gott unter allen seine Verborgenen haben wird, die ich alle und jede herzlich liebe. Denn: Ich glaube und bin darin gewiß, daß sowohl in der Partei der Römisch-Katholischen als unter den Lutheranern, Reformierten, Mennoniten usw. und bei all den besonderen Meinungen und Gebräuchen dieser Parteien die Seelen, nicht weniger als unter den Separatisten, zu dem höchsten Gipfel der Heiligkeit und Vereinigung mit Gott und also auch zu dem Recht der Erstgeburt gelangen können.
Nichtsdestoweniger glaube ich auch, daß, wann einer in seinem Gewissen überzeuget wird, diese oder jene Kirchengebräuche seien wider Gott und ihm an seiner Seelen Heiligung hinderlich, er sodann verpflichtet sei, sich solcher Dinge zu enthalten, weil es ihm also zur Sünde sei; denn was nicht aus dem Glauben gehet, das ist Sünde.
Meine Person und Verhalten anlangend, so hange ich keiner Religionspartei sektiererischer Weise an, habe mich auch von keiner Partei förmlich separiert, bin auch noch nicht Sinnes, solches zu tun. Ich gehe zwar in keiner äußeren Kirche zum Abendmahl, weil ich mich vor diesem, aus Trieb meines Gewissens, enthalten muß und auch bis jetzt noch keine Ursache habe, warum ich mich wieder zu dessen Gebrauch wenden sollte. Sollte ich aber mit Gewißheit erkennen, daß Gott mehr durch mein Abendmahlgehen als durch mein Davonbleiben könnte verherrlichet und ich oder mein Nächster in Wahrheit erbauet werden, so würde ich mir im übrigen wenig Skrupel daraus mähen.
Wann ich Gelegenheit habe, einen frommen reformierten, lutherischen usw. Prediger zu hören, so gehe ich in die Kirche; und wann ich Gelegenheit hätte, einen frommen katholischen Prediger zu kennen (wie ich denn deren gekannt habe), so wollte ich wohl mit eben der Freiheit des Gemüts dessen Predigt anhören; es sei denn, daß ich mich dieser Freiheit, anderer Schwacher wegen, nicht bedienen wollte.
Und gleichwie unter allerlei Volk, wer Gott fürchtet und Recht tut, demselben angenehm ist, so ist er auch mir angenehm, er habe sonst dieses oder ein anderes Religionsröcklein an; und so gehe ich wirklich mit allerhand Religions- Verwandten um. Ich rede zu ihnen (wann’s Gott fügt) öffentlich und sonderlich von der Gnade Gottes in Christo, von der Verleugnung, vom Gebet, von der Liebe zu Gott und lasse ihnen dabei das ganze Gebäude ihrer besonderen Kirchen- Verfassung und Meinungen unangetastet stehen, solange es Gott stehen läßt.
Mit besonderen Meinungen halte ich mich wenig oder gar nicht auf, auch nicht mit den beliebten und berufenen Meinungen vieler Separatisten: von dem Fall des Antichristen, vom Tausendjährigen Reich, von der Läuterung, von der Wiederbringung und dergleichen. Mir selbst und aller Kreatur zu sterben, damit ich Gott leben möge in Christo Jesu, das ist mein ganzes Geheimnis des Glaubens. In andern Dingen bin ich dumm und hoffe, in dem Sinne immer dummer zu werden.
Kurz, ich bin kein Stürmer des äußeren Babels, sondern suche nur durch Gottes Gnade, wie Babel in mir und anderen Herzen zerstöret und Gottes Reich aufgerichtet werde, welches nicht ist Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.
Dieses eine, mein lieber Freund, bezeuge ich ihm noch zum Beschluß aus aufrichtiger Liebe, und ich weiß, daß ich die Wahrheit sage: daß nämlich sein Eifer wider Babel oder die sogenannten Sektierer nicht aus dem Geist Jesu, sondern meist sein eigenes, aus dem Geist des Verfalls angezündetes Naturfeuer sei, welches ihn zwar genug brennen, aber keinen Pfosten an Babel verbrennen wird; und daß er, nebst mir, nötig habe, durch beständiges Hungern nach der Gnade und Einkehren in die sanfte Liebe Jesu seine herben Naturkräfte besänftigen zu lassen, damit er auch seinen armen Nächsten mit einem gütigeren Aug‘ ansehen, tragen und umfassen könne. Sonst wird er gewiß, mein lieber Freund, es endlich noch bedauern, daß es seine edle Kraft, Ernst und Zeit nicht auf Nützlicheres angewandt hat. Gott gebe ihm und mir in diesem und allem übrigen Weisheit und Gnade!