Sage mir, was siehst du? Ich sehe Leute auf Schiffen fahren. In tiefer Stille ruht das Meer, die Luft ist heiter, sanft und günstig wehen die Winde. Man speist in den Schiffen, man singt zu Leiern, Flöten und Cithern allerlei schöne Gesänge. Das Wasser selbst tönt den Klang zurück, und die Fische des Meeres kommen in Schaaren herbei, um durch ihr Spiel die Freude noch zu vermehren. Aber nun verfolge einmal den Lauf der Schiffe und sage mir, was siehst du weiter hin? Ach, ich sehe, wie der Himmel rundum schwarz wird, wie Stürme daher brausen und die Wolken wild durcheinander jagen, wie das Meer schäumt, die Fluchen sich thürmen, das Schiff mit der Mannschaft zu Grunde geht. Ach welche Noth ist nun der kurzen Herrlichkeit gefolgt! Dieselben Fische, die vorher mit euch spielten, verschlingen euch nun! Sage mir, was siehst du ferner? Ich sehe Kaufleute mit Kameelen und Wagen. Kostbare Waaren führen sie bei sich, hoffen großen Gewinn, ziehen heiter und fröhlich ihres Weges. Was siehst du aber weiter hin? Ich sehe ein Heer von gewaffneten Räubern plötzlich aus dem Versteck hervorbrechen, ans die Kaufleute losstürzen, sie erschrecken, berauben, in die Flucht jagen und tödten. Ach, welches Elend ist nun der kurzen Freude gefolgt! Sage mir, was siehst du weiter? Ich sehe ein Haus, voll von Reichthümern aller Art. Der Hausvater hat seine Lust an seinen Kindern, an der zahlreichen Dienerschaft, an vielen Heerden, an gefüllten Scheuern, an mannigfachen Genüssen. Was merkst du aber bei alle dem? Je reicher er ist, desto größere Sorge drückt ihn. Er fürchtet, das Erworbene möchte nicht ausreichen, Starke möchten ihn überfallen, das Gesinde möchte untreu sein. Sage mir, was siehst du weiter? Ich sehe eine Hochzeit feiern in großer Pracht, bei köstlichen Speisen, unter jubelnder Freude. Aber warum achtest du nicht auf das, was folgt? Wie selten findet sich Eintracht unter den Gatten, wie viele Sorgen treten ein, wie viele Mühe macht die Erziehung der Kinder und die Erhaltung des Hauswesens, wie leicht entspinnt sich Argwohn zwischen Mann und Frau! Sage mir, was siehst du noch? Ich sehe gelehrte Schulen, wo man sich mit verschiedenen Wissenschaften beschäftigt. Das scheint die schönste Arbeit zu sein, weil sie der Weisheit gilt. So sagst du, aber du bedenkst es nicht recht. Diese thörichten Pilger mühen sich mit der Erforschung der geschaffenen Dinge ab und vergessen oft dabei, was Gottes, ihres Schöpfers, ist. Was hilft es doch dem Menschen, wenn er die Natur aller Dinge aufs Genaueste weiß, aber nicht bedenkt, woher er gekommen ist und wohin er geht? wenn er auf dem Wege sich festsetzt und der Reise nach der Heimath vergißt? So bleibt es denn wahr, was der Prediger Salomo sagt: Alles ist ganz eitel!
Hugo von St. Victor: Vom Lauf der Dinge
Einiges in der Welt ist erst jüngst entstanden, Anderes schon längst untergegangen; Einiges hat die Mitte erreicht, Anderes ist im Beginnen; Alles aber fließt dahin und strebt nach einem gemeinsamen Orte. O großer Strom, wohin rauschest du? Eine geringe Quelle ist dein Anfang, du läufst und wächsest, und wirst wieder verschlungen. O Quelle, die nie versiegt, o Lauf, der nie ruht, o Abgrund, der nie erfüllt wird! Die Eitelkeit gebiert’s, die Sterblichkeit reißt es fort, und Alles verschlingt der unersättliche Tod. Immer eilt die Gegenwart davon, immer folgt ihr die Zukunft nach, und, weil ein ewiger Wechsel ist, so scheint ein ewiger Bestand zu sein. Denn das Auge des Sterblichen ist kurzsichtig und auf das Einzelne gerichtet; es erhebt sich nicht zur Anschauung des Ganzen. Hören daher die Menschen von der Veränderlichkeit der Dinge, so staunen sie und verwundern sich, als ob neuerdings sich begeben hätte, was doch schon vor Alters etwas Altes war. Mir scheint Alles wie im Aufbruche zu sein, ein Geräusch der ganzen Natur trifft meine Ohren, die da läuft, um zu ihrem Endziele zu gelangen. Wo sind unsre Väter, wo Alle, in deren Liebe und Freundschaft wir uns glücklich fühlten? O alte Zeit, wo bist du hin? Einst, da du noch warest, da liebte ich dich; jetzt, da du nicht mehr bist, liebe ich dich noch immer, und doch möchte ich nicht, daß du mir wiederkehrtest. Was ist das für ein unerhörtes Ding, daß man etwas liebt und seine Gegenwart nicht wünscht? Wer deutet meinem Herzen dieses wunderbare Gefühl? Wohl mag ich darum nicht deine Rückkehr wünschen, weil ich lieber dort zu sein verlange, wo du jetzt bist. Einst liebte ich dich verkehrt, weil ich dich gern da hätte bleiben lassen, wo ich war; jetzt liebe ich dich besonnener, weil ich dort sein will, wo du ewig stehst. Ich bin in der Verbannung, du im Vaterlande, und darum werde ich nicht müde, deiner zu gedenken, weil ich in der Erinnerung an dich gleichsam zum Vaterlande zurückeile. O wie süß ist es, im fremden Lande der Vergangenheit zu gedenken!
Hugo von St. Victor: Gebet
Unser Elend und Gottes Erbarmen sind zwei Flügel, auf denen sich unser Gebet zum Himmel emporschwingt. Bedenken wir zuvörderst, wie kurz unser Leben, wie schlüpfrig der Weg, wie ungewiß die Stunde des Todes ist. Bedenken wir, daß wir weinend in dies Leben traten, mit Schmerz darin wandeln, mit Jammer davon scheiden werden. Bedenken wir, mit welchen Bitterkeiten Alles, was auch noch so reizend erscheint, untermischt, und wie trügerisch und verdächtig ist, was die Weltliebe gebiert. Denken wir an die unzähligen Uebel, welche die Menschheit überhaupt belasten, denken wir an die Gefahren insbesondere, die uns bedroht haben. Erinnern wir uns, wie viele Sünden wir von Jugend auf begangen, wie viele eitle Arbeit wir gethan, wie oftmals wir uns vergebens und um Nichts abgemühet, was wir gefunden und was wir verloren haben, wo wir liegen und von wo her wir gefallen sind. Was kann uns inständiger zum Gebete auffordern, als solche Betrachtung? Aber was mag auch andrerseits uns lieblicher dazu anlocken, als das Gedächtniß an die Barmherzigkeit des Schöpfers, die wir immerdar erfahren haben? Bedenken wir, wie viel Gutes er uns gegeben, und aus wie vielem Unglück er uns gerissen hat. Bedenken wir, wie er uns, wenn wir ihn vergaßen, wieder an sich erinnerte, wenn wir von ihm gegangen waren, wieder zu sich rief, wenn wir kamen, gnädig aufnahm; wie er uns vergab, wenn wir Reue zeigten, wie er uns hielt, wenn wir standen, wie er uns aufrichtete, wenn wir fielen, wie er aus unsrer bösen Lust bittres Leid und aus dem bittern Leide wiederum himmlischen Trost bereitete. Wahrlich, betrachten wir Solches, so muß unser Herz zum Gebet entflammt werden.
Hugo von St. Victor: Liebe
Die Liebe erleuchtet die Vernunft, reinigt das Gewissen, erheitert das Herz; die Liebe zeigt Gott. Eine Seele, in der die Liebe wohnt, wird vom Stolze nicht aufgeblasen, vom Neide nicht verzehrt, vom Zorne nicht zerrissen, vom Geize nicht verblendet; immer ist sie rein und keusch, ruhig und fröhlich, friedlich, gütig und bescheiden. In wem Gottes Liebe wohnt, der denkt immer, wie er die Welt verlassen, wie er zum Himmel gelangen, wie er den wahren Frieden finden könne. Mag er gehen, mag er sitzen, mag er wirken, mag er ruhen, mag er thun, was er will, sein Herz bleibt bei Gott. Schweigend gedenkt er Gottes, redend wünscht er nichts anderes als von Gott und Gottes Liebe zu reden. Alle ermahnt er zur Liebe und Allen empfiehlt er die Liebe, Allen beweist er nicht bloß mit Worten, sondern auch mit der That, wie süß die Liebe Gottes und wie bitter und trübe die Liebe der Welt ist. Er verlacht dieser Welt Pracht, schilt ihre Sorge, zeigt, wie thöricht es ist, auf vergängliche Dinge zu vertrauen. Er staunt über die Blindheit der Menschen, die Solches lieben, er meint, daß Allen süß sein müßte, was ihm schmeckt, daß Alle sehen müßten, was er sieht. So komm denn, du selige Liebe, auch zu uns, mache unsere Sehnsucht weit, mache unser Herz breit, daß es Gott als Gast und Bewohner in sich aufnehmen kann.
Hugo von St. Victor: Liebe
Es ist etwas Großes um die Liebe. Es verliert, was er lebt, wer nicht liebt. Wo die Liebe eintritt, da gewinnt sie alle andern Empfindungen und nimmt sie gefangen. Die Liebe genügt und gefallt um ihrer selbst willen, sie ist Verdienst und Lohn, Same und Frucht zu gleicher Zeit. Die Liebe macht aus zweien Einen Geist, bewirkt, daß sie dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen. Die Gott liebende Seele wird von Sehnsucht getragen und gehoben, sie schwingt und stiehlt sich gleichsam aus dem Körper heraus, wenn sie seine unaussprechliche Güte kostet. Die Liebe vergißt Ansehn und Würde, und weiß nichts von Verdiensten. Die Liebe giebt Vertrautheit mit Gott, die Vertrautheit Kühnheit, die Kühnheit Genuß, der Genuß Verlangen. Die Liebe weckt‘ die Seele aus dem Schlafe, mahnt und erweicht sie und verwundet das Herz. Die Liebe erhellt das Dunkle, öffnet das Verschlossene, erwärmt das Kalte, besänftigt den rauhen, zornbegierigen und ungeduldigen Sinn, vertreibt die Laster, unterdrückt fleischliches Gelüst, bessert die Sitten. Das Alles thut die Liebe, wann sie da ist; weicht sie aber, so wird die Seele lau und schlaff, gleich als wenn man einem kochenden Geschirr das Feuer entzieht.
Hugo von St. Victor: Umkehr
So spricht der himmlische Vater zu uns gefallnen Menschen: Werdet, wie der Sohn meiner Liebe! In ihm und durch ihn liebe ich Alles, nach ihm prüfe und richte ich Alles. Seid ihr nun durch die Sünde von seinem Bilde abgewichen, so kehret auf seinen Rath wiederum zurück. Ein Bote großen Raths wird euch gesandt, derselbe, der mit mir euer Schöpfer war, kommt nun, Mensch geworden, als euer Erlöser zu euch. Er, der bei der Schöpfung euch Herrlichkeit gab, kommt nun, euch Heiligkeit zu geben. Höret ihn! Er ist euer Urbild, euer Arzt, euer Beispiel. Höret ihn! Rühmlicher wäre es gewesen, immer ihm ähnlich geblieben zu sein, nicht minder rühmlich aber wird es sein, zu seinem Bilde zurückzukehren. O Mensch, wie magst du deine Unwissenheit vorschützen? Siehe, deine eigne Natur straft dich Lügen. Du weißt, wer du bist, woher du stammst, daß du von dem guten Schöpfer nicht böse geschaffen worden bist, und du flehest nicht zu dem, der dich gemacht hat, daß er dich erlöse? Zweifle nicht an seiner Macht: siehe seine Werke, wie groß sie sind! Zweifle nicht an seiner Weisheit: siehe seine Werke, wie schön sie sind! Zweifle nicht an seiner Güte: siehe seine Werke, wie gut sie sind! Er zeigt dir also in seinen Geschöpfen, was er zu deiner Erlösung vermöge. Er zeigt dir aber auch zugleich, welchen furchtbaren Richter du in ihm zu erwarten hast, wenn du ihn nicht als Erlöser an, nimmst. Denn Niemand kann ihm widerstehen, dem Allmächtigen; Niemand kann ihn täuschen, den Allwissenden; Niemand kann ihn bestechen, den Heiligen.
Hugo von St. Victor: Märtyrer
Betrachten wir die Märtyrer der Kirche und lassen wir unser träges, kaltes Herz an ihrer Liebe warm werden! Was haben sie gelitten und überwunden! Alles, was nur dem menschlichen Herzen empfindlich sein kann, ist über sie ergangen, um sie abwendig zu machen. Aber die Liebe zog sie. Sie gingen unaufhaltsam ihrem Ziele entgegen. Hinter sich die Welt, vor sich Gott, in der Mitte die Henker und Martern. So tief ihr Herz von der Liebe verwundet war, so tief verachteten sie die Wunden, die dem Fleische geschlagen wurden und bekannten sterbend, was ihnen im Leben das Theuerste gewesen war. O welche Seligkeit muß ihnen die Liebe gegeben haben, die so unauslöschlich in ihren Herzen brannte! Und nun sind sie dahin gekommen, wo sie die Liebe selbst aufgenommen hat. Wie Wasserströme stürmten die Leiden der Welt auf sie ein. Aber viele Flüsse und viele Wasser vermochten die Liebe nicht auszulöschen.
Hugo von St. Victor: Schöpfung
Siehe, o Herr, ich bin, weil Du mich geschaffen hast, und daß Du mich schaffen und unter Deine Kreaturen zählen wolltest, hattest Du vorher bestimmt von Ewigkeit, noch ehe Du den Himmel ausspanntest und die Tiefen legtest; noch ehe die Erde gemacht, die Berge gegründet und die Quellen geöffnet waren. Und wie komme ich dazu, gütigster Herr, höchster Gott, gnädigster Vater, wie habe ich Solches verdient? Ich war nicht und Du schufest mich, ich war Nichts und Du riefest mich aus dem Nichts ins Dasein. Du hättest mich zu einem Wassertropfen, einer Feuerflamme, einem Vogel oder Fisch, zu einer Schlange oder irgend einem wilden Thiere, zu einem Steine oder Holze machen können. Aber nein, Deine Güte hat mich über alle Dinge gesetzt, hat mir nicht bloß Leben und Gefühl, sondern auch Verstand gegeben; sie hat mich zur würdigsten Kreatur erhoben und nur um ein Geringes unter die Engel gestellt.
Hugo von St. Victor: Gottes Allmacht in der Schöpfung
Welcher Verstand begreift die Macht, die dazu gehört, auch nur Eins, und wäre es auch das Kleinste, aus Nichts zu schaffen! Wie unendlich groß muß also die Macht sein, die so unendlich Vieles schuf! Zähle die Sterne des Himmels, den Sand am Meere, den Staub der Erde, die Tropfen des Regens, das Gras des Feldes, die Blätter und Früchte der Bäume. Wie unendlich groß muß aber auch die Macht sein, die so unendlich Großes schuf! Messe einer die Masse der Berge, den Lauf der Ströme, die Weite der Ebenen, die Höhe des Himmels, die Tiefe der Meeresgründe! Und welche Weisheit zeigt sich in der Zusammenstellung und Anordnung der einzelnen Dinge! Nicht nur das Aehnliche steht in Eintracht bei einander, sondern auch das Verschiedene und Widersprechende trifft gleichsam in einem Freundschaftsbunde zusammen. Was ist sich mehr entgegengesetzt, als Feuer und Wasser? Und doch hat die Vorsehung beide im Naturganzen so gestellt, daß sie nicht nur das gemeinsame Band desselben nicht zerreißen, sondern selbst Allem, was entsteht und wächst, Lebenskraft und Nahrung geben. Siehe ferner, wie die sämmtlichen Glieder des menschlichen Körpers so miteinander verbunden sind, daß keines gefunden wird, das nicht dem andern zu helfen schiene. Ja, Alles greift in der ganzen Welt zweckmäßig und ohne Verwirrung in einander. Blicke hinauf gen Himmel, herab auf die Erde. Dort oben hat Gott das Licht geschaffen, das herunterleuchtet. In der Luft hat er Winden und Wolken den Weg bereitet, damit sie in ihrer Unruhe den Regen über die Länder ausschütteten. In die Tiefe der Erde barg er Wassermassen, die sich auf seinen Wink durch die Abgründe hin und her wälzen sollten, wie es das Gleichgewicht des Ganzen forderte. Von der Luft läßt er die Vögel getragen werden, die Fische taucht er ins Meer, das Land erfüllt er mit allerlei Thieren und Gewürmen. Einigen Gegenden gab er reiche Baumfrüchte, andern viele Weinberge, noch andern fette Gemüse, gedeihliche Viehzucht, heilsame Kräuter, Künste und Gewerbe, so daß es keine Gegend giebt, die nicht vor der andern Besonderes und Eigenthümliches besäße, aber auch keine, die nicht etwas Neues von der andern erhalten könnte. Dazu hat die weise Vorsehung das, was der Mensch nothwendig bedarf, offen und allgemein zugänglich gemacht, was hingegen nur dem Glanze dient, tief in den Schoos der Erde verborgen.
Macarius: Bibellese
Lies fleißig, betrachte und lerne mehreres aus dem Evangelium und andern Büchern der heiligen Schriften auswendig; welche Gedanken dich dann auch überfallen; so sieh dich hienieden nicht um, hebe höher deinen Blick und sogleich wird dir Hülfe vom Herrn werden!
(Apophthegm. ex Cotelerio Monumen. eccles. gr. Tom. I.)