Dora Schlatter – Trost

Die ruhelosen Gedanken, die stete Not und Angst des Lebens, die mich zusammenpreßt, die Sorgen, die aus dem Druck entstehen, verbauen mir den Ausblick. Ich kann nicht loben, oft kaum glauben. Nur mit Tränen kann ich beten: „Laß meine Seele nicht vergehen in der Angst“, und mit Tränen kann ich danken daß ein Strählchen seines Erbarmens meinen Nachtweg beleuchtet. Es ist nur ein Schimmer, aber doch gerade so viel, daß ich ihn noch sehen kann und sein Friedensangesicht. Wenn er meine Seele einst herausgerettet hat, dann hat er Treue gehalten!

Dora Schlatter – Gottes Führung

Das ist das Große und Gütige an Gottes Führung, daß nichts an uns herantritt und über uns hinstreicht ohne heilige Absicht und daß durch all diese Arbeit in uns der innere Mensch wird und wächst als das Bleibende. Es ist doch wunderbar, daß sich der ewig bleibende Mensch baut und gestaltet in den Leidens- und Schmerzensstunden. Es bleibt auch da in Geltung, daß wir nicht zur Herrlichkeit gelangen, ehe wir eingegangen sind in die Geheimnisse des Ölbergs. Gott wird uns immer größer, Christus immer teurer, mit jedem Lebensjahre, und die Begriffe des Irdischen, Zeitlichen klären sich mehr und mehr ab unterm Lichtstrom, der von der Ewigkeit herausbricht.

Dora Schlatter – Aus einem Brief an eine ehemalige Schülerin

Ich kann von mir nichts anderes schreiben, als Sie es tun: „Ich leide täglich unter mir selber“ – nein, mehr noch, ich leide täglich mehr; denn je älter und schwächer ich werde, desto siegloser wird mein Kampf. Die verzagten Stunden kenne ich nur zu gut. Wissen Sie, was mich gerade diese Nacht wieder tröstete? Das ist das Wort: „So uns unser Herz verdammet, ist Gott größer als unser Herz und erkennet alle Dinge.“ Ich meine, das ist wie ein Wasserstrom von Segen und Erquickung. Er kennt unser inneres Wollen und Sehnen und wird einst dieses zum Durchbruch führen, zum vollen Licht.

Dora Schlatter – Leiden

Leiden ist intensives Leben! Das stete Unwohlsein brachte Konzentration, den Blick aufs Kleine, die Liebe zum winzigsten Schönen. War’s nicht das, was uns das Leben reich und voll machte, daß wir die kleinen Spuren, die zur Freude führen könnten, suchten und auffanden? Erwuchs uns nicht eine Welt voll Entzücken am kleinen Nest des Zaunkönigs in den alten Wurzelfasern am Wege, am ausgebreiteten Flügelpaar des großen Seglers, der auf der Skabiose schwankte, aus der weißen Blüte der duftenden Orchis, die ihren Sporn so weit und kühn ausstreckte?