d’Espagne, Jean – Vom Wesen der Religion

Insgemein glaubt man, daß die ganze Religion im Thun und in der Ausübung guter Werke bestehe, daß das ganze Christenthum auf der Lehre von den guten Werken beruhe, oder, daß wenigstens die christliche Sittenlehre den vornehmsten Theil und den eigentlichen Grund der christlichen Religion ausmache. Diese Grundsätze sind sehr scheinbar. Die Folge davon ist, daß man den Glauben als eine unnütze Eigenschafft vorstellt, auf welche eben nicht viel ankomme. Die schlechtesten Leute sind oft sehr beredt über diesen Punct, und halten den guten Werken und der Tugend herrliche Lobreden; und in der That muß man sie auch, der Lehre Jesu gemäß, empfehlen; nur nicht auf Unkosten des Glaubens. Aber es ist wirklich ein viel größerer Irrthum, als man glaubt, wenn man sich einbildet, die Religion sey eine bloße Sittenlehre. Die Religion zeigt uns nicht blos, was wir zu thun haben, sondern hauptsächlich, was Gott für uns gethan habe.

Dieses ist der eigentliche und vornehmste Charakter, welcher die christliche Religion von allen andern Religionen in der Welt unterscheidet. Denn es giebt keine einzige falsche Religion, die nicht einige schöne Sittenlehren vortrage. Aber den Unterricht, was Gott an uns gewendet habe, namentlich im Werke der Erlösung, giebt uns keine Religion, als die christliche. Darinne liegt eigentlich das Wesentliche des wahren Christenthumes; denn alle andere Religionen führen, ihrem Vorgeben nach, dadurch zur Seligkeit, daß sie den Menschen zeigen, was er zu thun habe: aber unsre Religion stellt unsre ganze Seligkeit als ein Werk Gottes vor, als eine unverdiente Gnade und Barmherzigkeit, die Gott dem Menschen erzeiget. Das größte Verderben, das in die Kirche eingerissen ist, hat mit diesen schädlichen Grundsätzen angefangen, welche die Sittenlehre für das Wesentlichste in der ganzen Religion ansehen. Denn daraus ist entstanden, daß das ganze Christenthum in gewiße Gebote und Verbote gesetzt worden ist. Es ist der Ehre Gottes nachtheilig, wenn man glaubt, daß die Lehre von den Werken den Grund der ganzen Religion ausmache; denn unsre Seligkeit, das Ziel, wohin unsre Religion uns leiten will, ist auf dasjenige gegründet, was Gott für uns gethan hat, und nicht auf dasjenige, was wir gutes thun. Wenn die hohe Würde einer Lehre von der Vortrefflichkeit ihres Gegenstandes abhänget, so ist diese Lehre, welche von Gott selbst und seinen großen Thaten handelt, viel erhabner und ehrwürdiger, als diejenige, welche von unsern Werken handelt. Ueberhaupt kann die letztere schlechterdings nicht ohne die erstere bestehen. Alle wahre Tugend ist eine Folge unsrer Heiligung, und unsre Heiligung ist ein Werk des uns heiligenden Gottes.

d’Espagne, Jean – Kreuzigung

Die aller erschrecklichste Sünde, die die Menschen begehen konnten, bestand darinne, daß sie den Herrn der Herrlichkeit kreuzigten. Und aus dieser Sünde brachte die Weisheit Gottes das größte und ewige Glück der Menschen heraus, nämlich die Erlösung. Also hat sich Gott der größten Sünde bedient, die größte That zu thun.

Das Alte Testament deutet uns sehr deutlich darauf, daß auf das Versöhnungsblut alles ankomme. Ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung.

d’Espagne, Jean – Barrabas

Barrabas war ein Jude; sein Name zeigt es. Desto mehr erforderte es das politische Interesse der Juden, ihn strafen zu lassen, um nicht in den Verdacht zu gerathen, als wenn sie einen Aufrührer begünstigten; denn sie waren sehr geneigt, sich, wider die Römer, ihre Oberherren, zu empören. Indem sie einem solchen Menschen das Leben retteten, so setzten sie ihre Nation in Gefahr, und sich dem ärgsten Verdachte aus; Aber die blinde Wuth ließ sie kein Urtheil fällen.

d’Espagne, Jean – Eine Mahlzeit.

Das war doch eine merkwürdige Mahlzeit, da Jesus, der Todtenerwecker, und Lazarus, der Erweckte, mit einander aßen (Was werden da für liebliche Gespräche vorgefallen seyn!) Sonst gehen die Menschen erst zu Tische, und dann ins Grab; hier geht jemand aus dem Grabe zu Tische. Der Heiland war auch dabey. Welche Mahlzeit!

d’Espagne, Jean – Glauben

—- Es ist nichts gewöhnlicher, als, daß die Leute sprechen: Beweise mir nur die Wahrheit der Lehre des Heilandes! löse mir diese und jene Zweifel auf, so will ich glauben. Aber solche Leute reden so, als wenn sie aus eigner Vernunft und Kraft glauben könnten; Es kömmt mir eben so vor, als wenn ein Blinder verspräche die Farben zu erkennen, wenn man sie ihm nur zeigen wolle. Die Wahrheit wird blos von denenjenigen erkannt, die Augen haben sie zu sehen.

Andre bilden sich ein, wenn sie nur einmal ein Wunder sehen könnten, so würden sie unfehlbar gläubig werden: noch andre glauben zu glauben, weil sie nie über die Religion gedacht haben.

d’Espagne, Jean – Mitleiden

Die Schrift macht kein Geheimniß daraus, daß der Heiland Gehorsam gelernt hat. Je mehr er das menschliche Elend erfuhr, desto mehr brach ihm vor Mitleiden sein Herz. Nicht lange vor seinem tode lesen wir von seinem Weinen. Er hat geweint:

  1. über einen einzelnen Menschen, den Lazarus. (Und Jesu giengen die Augen über)
  2. über eine Nation, über die Juden
  3. über uns alle; da er mit starken Geschrey und Thränen für uns bat.