Hugo von St. Victor – Die Gaben Gottes

O meine Seele, wie viel hat dir dein Bräutigam gegeben! Blicke hin auf diese Welt, zeigt nicht alles Geschaffene die Bestimmung, deinen Nutzen zu fördern und in lieblichem Wechsel dir immerdar Freude zu bereiten? Siehe, meine Seele, und bedenke es sorgfältig, daß dein Schöpfer, Freund und Bräutigam das ganze Weltgebäude dir zum Dienste geordnet hat. Die Engel reinigen und entzünden dein Herz, erleuchten und bilden deinen Verstand, vervollkommnen und bewahren deine Person. Eine große Würde ist es, solche Lehrer, Tröster und Hüter zu haben. O Seele, könntest du es doch sehen, mit welcher Freude und welchem Frohlocken sie um uns stehen, wenn wir beten, mit welcher Betriebsamkeit sie uns im Guten erhalten, mit welcher Sehnsucht sie uns und unser ewiges Heil erwarten! Der Himmel muß dir dienen durch seine Bewegung, die Sterne des Himmels durch ihren Einfluß. Die Sonne schenkt dir das Tageslicht, der Mond scheint dir in der Nacht. Das Feuer mildert dir die Kälte der Luft, die Luft lindert dir die Hitze des Feuers. Das Wasser wäscht dir den Schmutz ab, löscht dir den brennenden Durst und befeuchtet das Ackerland. Die Erde aber hält dich empor durch ihre Festigkeit, erquickt dich durch ihre Fruchtbarkeit, ergötzt dich durch ihre Schönheit. Siehe, meine Seele, kurz bist du alle Dinge durchlausen und hast gefunden, wie Alles deinem Nutzen und deiner Freude dienen muß nach göttlicher Bestimmung. So bewahre nun deinen Brautstand und hüte dich zur Buhlerin zu werden, daß du die Gaben des Gebers lieber hättest, als die Zuneigung deines Freundes.

Hugo von St. Victor: Bibellese

Das Lesen (der heiligen Schrift) dient zum Beten und zum Arbeiten; es giebt die Weisung, wie man ein beschauliches, wie man ein thätiges Leben führen soll.
(Super Regul. D. Augustini c. 9.)

Aber vergeblich wirst du lesen, wenn du nicht mit Lust und Liebe liest.
lib. 4. de anima cap. 9.

Das Lesen darf dir nicht zum Ekel werden, sondern zur Freude.
lib. 5. didasc. cap. 7

Die heilige Schrift ist wie ein öffentlicher Lehrer, der immer unter dem Volke seyn soll; sowohl wegen des Ansehens, wenn er befiehlt, als wegen des guten Beispiels für den Umgang.
lib. 1. Miscellan. cod. I. tit. 75.

Die heilige Schrift wird in einigen Stellen, wie hartes Brod, schwer verdauet, in andern so leicht wie Wein genossen; aber in allen Stellen kann sie doch dem Leser heilsame Arzney für seine Seele geben.
lib. 1. Miscellan. cod. 2. tit. 56.

Hugo von St. Victor: Bibellese

Zwiefach ist der Nutzen des Bibellesens: es erleuchtet mit Kenntnissen den Verstand und befördert gute Sitten; es lehrt, was zu wissen ergözt, und was zu befolgen heilsam ist… Die ganze heilige Schrift zielt dahin… Sehr nützlich ist das Lesen der heiligen Schrift; denn dadurch lernt man, was zu fliehen, was zu thun ist, wohin wir zielen müssen.
(In praenuntiationibus elucid. de Script. cap. 13.)

Hugo von St. Victor: Schöpfung

Welch eine herrliche Zierde der Natur, das vielfache Farbenspiel! Was ist schöner als das Licht, das, obschon selbst ohne Farbe, doch allen Dingen gleichsam die Farbe giebt? Was macht das Leben angenehmer, als der heitere Himmel, wenn er glänzt wie Sapphir, und mit freundlicher Klarheit den Blick anzieht und mild das Auge fesselt? Die Sonne funkelt wie Gold, des Mondes heller Schein ist dem Bernstein gleich, manche Sterne senden einen Flammenstrahl, andere schimmern in rosigem Lichte, noch andere spielen ins glänzende Grün oder Weiß.

Betrachte die Edelsteine, wie sie so wunderbar anzuschauen sind. Siehe die Erde, bekränzt mit Blumen, welch reizendes Schauspiel, wie es das Auge ergötzt und das Gefühl hebt! Dort die rothen Rosen, da die weißen Lilien, hier die purpurnen Veilchen. Wie wunderbar ist nicht nur ihre Schönheit, sondern auch ihr Entstehen! Denn aus dem Erdenstaube läßt Gottes Weisheit solche Gestalten treten. Endlich über alles schön ist das Grün, wenn im wiederkehrenden Frühling alles mit neuem Leben aufkeimt und sprosset, gleichsam nach überwundenem Tode, ein Bild der künftigen Auferstehung.

Hugo von St. Victor: Die Eitelkeit der Dinge

Sage mir, was siehst du? Ich sehe Leute auf Schiffen fahren. In tiefer Stille ruht das Meer, die Luft ist heiter, sanft und günstig wehen die Winde. Man speist in den Schiffen, man singt zu Leiern, Flöten und Cithern allerlei schöne Gesänge. Das Wasser selbst tönt den Klang zurück, und die Fische des Meeres kommen in Schaaren herbei, um durch ihr Spiel die Freude noch zu vermehren. Aber nun verfolge einmal den Lauf der Schiffe und sage mir, was siehst du weiter hin? Ach, ich sehe, wie der Himmel rundum schwarz wird, wie Stürme daher brausen und die Wolken wild durcheinander jagen, wie das Meer schäumt, die Fluchen sich thürmen, das Schiff mit der Mannschaft zu Grunde geht. Ach welche Noth ist nun der kurzen Herrlichkeit gefolgt! Dieselben Fische, die vorher mit euch spielten, verschlingen euch nun! Sage mir, was siehst du ferner? Ich sehe Kaufleute mit Kameelen und Wagen. Kostbare Waaren führen sie bei sich, hoffen großen Gewinn, ziehen heiter und fröhlich ihres Weges. Was siehst du aber weiter hin? Ich sehe ein Heer von gewaffneten Räubern plötzlich aus dem Versteck hervorbrechen, ans die Kaufleute losstürzen, sie erschrecken, berauben, in die Flucht jagen und tödten. Ach, welches Elend ist nun der kurzen Freude gefolgt! Sage mir, was siehst du weiter? Ich sehe ein Haus, voll von Reichthümern aller Art. Der Hausvater hat seine Lust an seinen Kindern, an der zahlreichen Dienerschaft, an vielen Heerden, an gefüllten Scheuern, an mannigfachen Genüssen. Was merkst du aber bei alle dem? Je reicher er ist, desto größere Sorge drückt ihn. Er fürchtet, das Erworbene möchte nicht ausreichen, Starke möchten ihn überfallen, das Gesinde möchte untreu sein. Sage mir, was siehst du weiter? Ich sehe eine Hochzeit feiern in großer Pracht, bei köstlichen Speisen, unter jubelnder Freude. Aber warum achtest du nicht auf das, was folgt? Wie selten findet sich Eintracht unter den Gatten, wie viele Sorgen treten ein, wie viele Mühe macht die Erziehung der Kinder und die Erhaltung des Hauswesens, wie leicht entspinnt sich Argwohn zwischen Mann und Frau! Sage mir, was siehst du noch? Ich sehe gelehrte Schulen, wo man sich mit verschiedenen Wissenschaften beschäftigt. Das scheint die schönste Arbeit zu sein, weil sie der Weisheit gilt. So sagst du, aber du bedenkst es nicht recht. Diese thörichten Pilger mühen sich mit der Erforschung der geschaffenen Dinge ab und vergessen oft dabei, was Gottes, ihres Schöpfers, ist. Was hilft es doch dem Menschen, wenn er die Natur aller Dinge aufs Genaueste weiß, aber nicht bedenkt, woher er gekommen ist und wohin er geht? wenn er auf dem Wege sich festsetzt und der Reise nach der Heimath vergißt? So bleibt es denn wahr, was der Prediger Salomo sagt: Alles ist ganz eitel!

Hugo von St. Victor: Vom Lauf der Dinge

Einiges in der Welt ist erst jüngst entstanden, Anderes schon längst untergegangen; Einiges hat die Mitte erreicht, Anderes ist im Beginnen; Alles aber fließt dahin und strebt nach einem gemeinsamen Orte. O großer Strom, wohin rauschest du? Eine geringe Quelle ist dein Anfang, du läufst und wächsest, und wirst wieder verschlungen. O Quelle, die nie versiegt, o Lauf, der nie ruht, o Abgrund, der nie erfüllt wird! Die Eitelkeit gebiert’s, die Sterblichkeit reißt es fort, und Alles verschlingt der unersättliche Tod. Immer eilt die Gegenwart davon, immer folgt ihr die Zukunft nach, und, weil ein ewiger Wechsel ist, so scheint ein ewiger Bestand zu sein. Denn das Auge des Sterblichen ist kurzsichtig und auf das Einzelne gerichtet; es erhebt sich nicht zur Anschauung des Ganzen. Hören daher die Menschen von der Veränderlichkeit der Dinge, so staunen sie und verwundern sich, als ob neuerdings sich begeben hätte, was doch schon vor Alters etwas Altes war. Mir scheint Alles wie im Aufbruche zu sein, ein Geräusch der ganzen Natur trifft meine Ohren, die da läuft, um zu ihrem Endziele zu gelangen. Wo sind unsre Väter, wo Alle, in deren Liebe und Freundschaft wir uns glücklich fühlten? O alte Zeit, wo bist du hin? Einst, da du noch warest, da liebte ich dich; jetzt, da du nicht mehr bist, liebe ich dich noch immer, und doch möchte ich nicht, daß du mir wiederkehrtest. Was ist das für ein unerhörtes Ding, daß man etwas liebt und seine Gegenwart nicht wünscht? Wer deutet meinem Herzen dieses wunderbare Gefühl? Wohl mag ich darum nicht deine Rückkehr wünschen, weil ich lieber dort zu sein verlange, wo du jetzt bist. Einst liebte ich dich verkehrt, weil ich dich gern da hätte bleiben lassen, wo ich war; jetzt liebe ich dich besonnener, weil ich dort sein will, wo du ewig stehst. Ich bin in der Verbannung, du im Vaterlande, und darum werde ich nicht müde, deiner zu gedenken, weil ich in der Erinnerung an dich gleichsam zum Vaterlande zurückeile. O wie süß ist es, im fremden Lande der Vergangenheit zu gedenken!

Hugo von St. Victor: Gebet

Unser Elend und Gottes Erbarmen sind zwei Flügel, auf denen sich unser Gebet zum Himmel emporschwingt. Bedenken wir zuvörderst, wie kurz unser Leben, wie schlüpfrig der Weg, wie ungewiß die Stunde des Todes ist. Bedenken wir, daß wir weinend in dies Leben traten, mit Schmerz darin wandeln, mit Jammer davon scheiden werden. Bedenken wir, mit welchen Bitterkeiten Alles, was auch noch so reizend erscheint, untermischt, und wie trügerisch und verdächtig ist, was die Weltliebe gebiert. Denken wir an die unzähligen Uebel, welche die Menschheit überhaupt belasten, denken wir an die Gefahren insbesondere, die uns bedroht haben. Erinnern wir uns, wie viele Sünden wir von Jugend auf begangen, wie viele eitle Arbeit wir gethan, wie oftmals wir uns vergebens und um Nichts abgemühet, was wir gefunden und was wir verloren haben, wo wir liegen und von wo her wir gefallen sind. Was kann uns inständiger zum Gebete auffordern, als solche Betrachtung? Aber was mag auch andrerseits uns lieblicher dazu anlocken, als das Gedächtniß an die Barmherzigkeit des Schöpfers, die wir immerdar erfahren haben? Bedenken wir, wie viel Gutes er uns gegeben, und aus wie vielem Unglück er uns gerissen hat. Bedenken wir, wie er uns, wenn wir ihn vergaßen, wieder an sich erinnerte, wenn wir von ihm gegangen waren, wieder zu sich rief, wenn wir kamen, gnädig aufnahm; wie er uns vergab, wenn wir Reue zeigten, wie er uns hielt, wenn wir standen, wie er uns aufrichtete, wenn wir fielen, wie er aus unsrer bösen Lust bittres Leid und aus dem bittern Leide wiederum himmlischen Trost bereitete. Wahrlich, betrachten wir Solches, so muß unser Herz zum Gebet entflammt werden.

Hugo von St. Victor: Liebe

Die Liebe erleuchtet die Vernunft, reinigt das Gewissen, erheitert das Herz; die Liebe zeigt Gott. Eine Seele, in der die Liebe wohnt, wird vom Stolze nicht aufgeblasen, vom Neide nicht verzehrt, vom Zorne nicht zerrissen, vom Geize nicht verblendet; immer ist sie rein und keusch, ruhig und fröhlich, friedlich, gütig und bescheiden. In wem Gottes Liebe wohnt, der denkt immer, wie er die Welt verlassen, wie er zum Himmel gelangen, wie er den wahren Frieden finden könne. Mag er gehen, mag er sitzen, mag er wirken, mag er ruhen, mag er thun, was er will, sein Herz bleibt bei Gott. Schweigend gedenkt er Gottes, redend wünscht er nichts anderes als von Gott und Gottes Liebe zu reden. Alle ermahnt er zur Liebe und Allen empfiehlt er die Liebe, Allen beweist er nicht bloß mit Worten, sondern auch mit der That, wie süß die Liebe Gottes und wie bitter und trübe die Liebe der Welt ist. Er verlacht dieser Welt Pracht, schilt ihre Sorge, zeigt, wie thöricht es ist, auf vergängliche Dinge zu vertrauen. Er staunt über die Blindheit der Menschen, die Solches lieben, er meint, daß Allen süß sein müßte, was ihm schmeckt, daß Alle sehen müßten, was er sieht. So komm denn, du selige Liebe, auch zu uns, mache unsere Sehnsucht weit, mache unser Herz breit, daß es Gott als Gast und Bewohner in sich aufnehmen kann.

Hugo von St. Victor: Liebe

Es ist etwas Großes um die Liebe. Es verliert, was er lebt, wer nicht liebt. Wo die Liebe eintritt, da gewinnt sie alle andern Empfindungen und nimmt sie gefangen. Die Liebe genügt und gefallt um ihrer selbst willen, sie ist Verdienst und Lohn, Same und Frucht zu gleicher Zeit. Die Liebe macht aus zweien Einen Geist, bewirkt, daß sie dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen. Die Gott liebende Seele wird von Sehnsucht getragen und gehoben, sie schwingt und stiehlt sich gleichsam aus dem Körper heraus, wenn sie seine unaussprechliche Güte kostet. Die Liebe vergißt Ansehn und Würde, und weiß nichts von Verdiensten. Die Liebe giebt Vertrautheit mit Gott, die Vertrautheit Kühnheit, die Kühnheit Genuß, der Genuß Verlangen. Die Liebe weckt‘ die Seele aus dem Schlafe, mahnt und erweicht sie und verwundet das Herz. Die Liebe erhellt das Dunkle, öffnet das Verschlossene, erwärmt das Kalte, besänftigt den rauhen, zornbegierigen und ungeduldigen Sinn, vertreibt die Laster, unterdrückt fleischliches Gelüst, bessert die Sitten. Das Alles thut die Liebe, wann sie da ist; weicht sie aber, so wird die Seele lau und schlaff, gleich als wenn man einem kochenden Geschirr das Feuer entzieht.