Nikolaus von Zinzendorf – Sünde

Die Macht der Sünde ist wohl weg (bei einem Kinde Gottes), doch ist noch ein beschwerliches Andenken da: die Stiftchen lassen sich noch fühlen. Daher bleibt allemal was Unangenehmes übrig; das führt man aber gleich in die Armut des Geistes, ins Betteln und Sublizieren zu Seinen Füßen. Und wenn wir das alle Tage tun, das ist die rechte Gabe. 1. Petr. 5, 12. Die bewahrt uns vor aller Gewalt der Feinde und vertreibt das Gift, das in der anklebenden Natur noch verborgen liegt, dass es zu keiner Kraft kommen kann. Aber sobald wir nur einen Tag vorbei gehen lassen, da wir nicht mit Zerknirschung an uns und Sein Verdienst und Erstattung dessen, was wir nicht vermögen, denken, so müssen wir gleich mit der Nase darauf gestoßen werden. Und man kann so anlaufen, dass wir endlich eben keine große Ermahnung brauchen, uns unserer Sündhaftigkeit zu erinnern, und nicht nötig haben es ins Wappen oder auf ein Bild setzen zu lassen, oder uns ein Memoriale zu machen: Deines Elends nicht vergiss! Wir haben Exempel an uns und andern, dass wir noch nicht vollendet seien, dass noch nicht aller Tage Abend ist, weder mit unserm Elend noch mit unserm Ungeschicktsein.

Otto Funke – Lieblingssünden

Laßt mich noch auf einen sehr wichtigen Punkt hinweisen, ich meine auf die besondere Lieblingssünde. Wenn es nämlich mit dem Kampf gegen das Böse in uns etwas Rechtes werden soll, so darf man nicht dabei stehenbleiben, das Böse insgesamt zu hassen. Auch ist’s nicht genug, ein Register aller möglichen Unarten, auf denen man sich ertappt hat, zu entwerfen. Nein, du mußt die ganz besondere Sünde, an der gerade du krankst, du mußt die Stelle, wo gerade du immer wieder zu Falle kommst, entdecken.

Jeder Mensch ist ein bestimmtes Individuum, eine originaliter ausgeprägte Persönlichkeit, ganz anders wie jede andere in der ganzen Welt. So ist auch das Sündenwesen in jedem Menschen ganz individuell ausgeprägt, gerade wie auch in deinem Körper die Krankheitsstoffe eine bestimmte Gestalt oder Ungestalt angenommen haben. Der eine hat eine schwache Lunge, der andere einen kranken Hals usw., und auf diesen schwachen Punkt wirft sich nun jede Erkältung oder Erhitzung. Genau so ist’s in geistlicher Beziehung. Bei dem einen ist die Eitelkeit, bei dem andern der Geiz, bei dem dritten der Neid, bei dem vierten die Wollust das große Haupttor der Sünde, wodurch sie immer wieder einzieht.

Wenn ich aber sage „großes Haupttor“, so meine ich damit keineswegs, daß man es so leicht sehen könnte. Ja, man könnte schon, wenn man wollte. Aber wer will denn sagen „ich will“, wenn es sich darum handelt, sich selber zu erkennen? Es ist gerade das des Teufels besondere Arbeit, uns zu verblenden, daß wir unsere Lieblingssünden nicht erkennen, und es ist unglaublich, wie manchmal auch christlich-erweckte Leute ihre Schoßsünde nicht kennen, während doch alle Welt davon redet. Wie oft verbirgt sich z. B. die giftige Natter des Hochmutes oder der Eitelkeit in dem Veilchengebüsch der „lieblichsten Demut“! Wie oft zieht der rohe Fanatismus den Eliasmantel des „heiligen Eifers“ an!

Willst du nun wirklich wissen, wo gerade dein inneres Leben krankt, so mußt du vor allen Dingen ehrlich beten: „Erleuchte mich, Herr, mein Licht, ich bin mir selbst verborgen und kenne mich noch nicht!“ Sodann mußt du wachen und ernstlich darauf achten, welches der Punkt ist, von dem aus immer wieder eine Trübung deines Seelenfriedens ausgeht. Also betend und arbeitend wirst du es schon finden.

Und dann? Ja, was dann? Nun, ich denke, wenn ein Feldherr eine belagerte Festung zu verteidigen hat, so wird er ja keinen einzigen Punkt aus den Augen verlieren. Aber er wird doch vor allen Dingen seine Augen gerichtet halten auf den schwächsten Punkt.

Ihn wird er soviel wie möglich zu befestigen suchen. Hier wird er die tapferste Mannschaft hinlegen; denn hier, das weiß er, wird der Feind seinen Hauptangriff machen. Die Anwendung liegt auf der Hand…

Chrysostomus – Ich will etwas Seltsames sagen:

Ich will etwas Seltsames sagen: Man hat sich nicht mit so großem Fleiße vor den großen Sünden zu hüten, als vor den kleinen, denn jene schrecken uns durch ihre Scheußlichkeit selbst ab, diese aber, weil sie in unsern Augen gering sind und klein, machen uns nachlässig, und weil man sie verachtet, bemüht man sich nicht gar sehr, ihrer los zu werden.