Bernhard von Clairvaux – Das Wachstum der Seele

Die Seele muß wachsen und sich breiten, um Gott aufzunehmen. Denn obwohl sie als Geist keine körperliche Ausdehnung gewinnen kann, so giebt ihr doch die Gnade, was ihr die Natur versagt. Sie soll geistig wachsen und zunehmen; sie soll nicht dem Wesen, sondern der Kraft nach wachsen, sie soll auch der Herrlichkeit nach wachsen. Sie soll heranwachsen zu einem vollkommnen Manne nach dem Maaße des Alters Christi, sie soll heranwachsen zu einem heiligen Tempel Gottes. Ihre Größe aber muß man immer nach dem Umfange der Liebe beurtheilen, von der sie erfüllt ist. Liebe sie viel, so ist sie groß; liebt sie wenig, so ist sie klein, liebt sie nicht, so ist sie Nichts.

Bernhard von Clairvaux – Schöpfung der Seele

Die selige und heilige Dreieinigkeit, Vater, Sohn und Geist, schuf die menschliche Seele nach ihrem Bilde und Gleichniß, da sie ihr Gedächtniß, Vernunft und Willen und damit Macht, Weisheit und Reinheit gab. Allein von dieser höchsten und herrlichsten Dreiheit fiel die Seele in eine entgegengesetzte und häßliche: in Schwäche, Blindheit und Getrübtheit. Denn das Gedächtniß ward ohnmächtig, die Vernunft finster, der Wille unrein. Das Gedächtniß im Besondern, gleichsam auf Felsen herabstürzend, zerspaltete sich wiederum in die Dreiheit von leidenschaftlichen, beschwerlichen und müßigen Gedanken. Auch der Fall der Vernunft war ein dreifacher. Sie sollte unterscheiden zwischen gut und böse, Wahrheit und Irrthum, Vortheil und Schaden. In diesem Geschäft aber ist sie so erblindet, daß sie oft Böses für Gutes, Irrthum für Wahrheit, Schaden für Vortheil ansieht. Auch der Wille endlich, der mit dem höchsten Gute vereint und verbunden bleiben sollte, ging vermittelst der Augenlust, der Fleischeslust und des hoffärtigen Wesens ganz in die Liebe der Welt und des Irdischen ein.