Philipp Melanchthon – Aus einer Rede aus dem Jahr 1548

Menschliche Wachsamkeit und menschliche Weisheit ist unsern Gefahren und Kämpfen nicht gewachsen. Denn einesteils fällt der Geist von Natur leicht in Erschlaffung, und die Teufel stellen den Lehrenden und Lernenden vielfältig nach. In der Kirche jedoch läßt der Sohn Gottes das Licht der Wahrheit nicht gänzlich verlöschen, wie er denn auch fleht: Heilige sie in der Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit! Es wird aber dieses letzte und wahnwitzige Zeitalter der Welt um so mehr Irrtum haben, weil die Zerfleischung der Kirchen wie der Staaten allmählich steigen werden. Zugleich wird Haß und Feindseligkeit zunehmen, und der Wahnsinn ehrgeiziger Köpfe wird die Unterredungen und Beratschlagungen der Vernünftigen verhindern. Darum wollen wir unsere Gefahren erkennen, und den Sohn Gottes, unseren Herrn Jesus Christus, unablässig anflehen, uns zu leiten und stark zu machen, damit wir nicht von ihm weichen.

Samuel Keller – Ganz wahr

Wer hätte es noch nicht an sich selbst beobachtet, daß jede Unwahrheit im Verhältnis zu andern einen befangen, unfrei macht, wenn wir ihnen gegenüberstehen. Es ist, als ob man sich ununterbrochen in Verteidigung befände, um zu verhüten, daß dieses Stück unserer Seelenblöße nicht entdeckt werde. Umgekehrt: Ist das nicht das Erquickendste im Umgang mit Menschen, die wir wirklich lieben und denen wir ganz vertrauen, daß wir ihnen das beste Gewissen in bezug auf unsere Stellung zu ihnen entgegenbringen? So müssen wir doch auch Gott gegenüber immer ganz aus der Wahrheit sein, denn ihm gegenüber verschlägt doch keine Verstellung. Haben wir uns aber im täglichen Umgang mit Gott an volle Aufrichtigkeit gewöhnt, dann ist doch jede Unwahrheit im Umgang mit Menschen ein störender Fremdkörper, und wir dürfen nicht ruhen, bis so etwas entfernt wird. Wie reich würden wir dann selbst durch einfache, „ungebildete“ Menschen belohnt werden, weil wir ihres Herzens goldenes Vertrauen verdienen!

August Tholuck – Wahrheit

Geliebte, laßt uns alle ohne Unterschied aufs neue mit uns zu Rate gehen, von welcher Art unser Wahrheitsdurst sei! Haben wir es auch recht bedacht, daß das Wesen einer Religion ebenso gewiß nur dadurch verstanden werden kann, daß sie erlebt wird, als die Kraft einer Arznei nur kennt, wer sie einnimmt? So verlangt denn auch unsere Religion zuallernächst eine Prüfung durch die Tat, durch das Leben selbst. Glaubt jemand, daß er nur mehr Wissen bedarf und nicht Heilung, nun, der braucht freilich den nicht, der als ein Heiland in die Welt gekommen, und der überall sich dafür ankündigt, daß er für die Kranken gekommen sei. Vielleicht haben wir alle zuviel Zeit damit verloren, die Arznei von außen zu besehen oder auch zu zergliedern, statt sie einzunehmen. Die ihr nicht von Herzen glauben könnt, ihr habt vielleicht alle den Grund dafür an einer Stelle gesucht, wo er nicht wirklich liegt. Wie, wenn er bei euch allen darin läge, daß die Wahrheit eures Kopfes bei euch zu wenig die Sache eures Lebens ist? Wenn das auch der Grund wäre, warum euch das Geheimnis von Christi Worten noch nicht aufgegangen ist? „So jemand will den Willen des tun, der mich gesandt hat“, o daß das Wort euch vor die Seele trete, daß es euch beschäme, daß es euch zur Selbsterkenntnis führe, sooft ihr darüber zu klagen beginnt, den Weg zum Glaubenslande nicht finden zu können!