Keller, Samuel – Über das Geben

Es ist lange her, daß ich anfing, von jeder Einnahme den zehnten Teil in eine besondere Kasse abzulegen, aus der ich dann die an mich herankommenden Zwecke bedenken konnte. Damals kam ich mir sehr wohltätig und gebefreudig vor. Da machte ich eine Reise zu einem großen Missionsfeste und wurde als auswärtiger Missionsgast von einer wohlhabenden Witwe beherbergt. Wir unterhielten uns auch über das Geben, und ich sagte sehr selbstbewußt, daß ich streng den Zehnten gebe. Meine Wirtin aber lächelte fein und meinte: „Da geben sie aber für ihre Verhältnisse nicht sehr viel. Ich verbrauche für mich nur einen Zehnten meines Einkommens, und neun Zehnte opfere ich auf die verschiedenste Weise dem Herrn.“ Das warf meine ganze Theorie über den Haufen und ich konnte erst gar nicht über dergleichen Wohltätigkeit zur Ruhe kommen. bis ich erfuhr, daß dieselbe Dame, die kinderlos war, fast 10000 Mark an Staats- und Kommunalsteuern zu zahlen hatte! Dann war ihr Zehnter zum Leben noch reichlich genug.

Man sieht aus diesem Beispiel, wie falsch es wäre, allgemeine Regeln derart aufstellen zu wollen, als müsse jeder Christ den Zehnten geben. Unsere Verpflichtungen zum Aufwand sind bei gleichem Einkommen sehr verschieden. Die Unterstützungen, die wir unseren Verwandten und Angehörigen zuteil werden lassen, weichen bei den einzelnen weit voneinander ab. Der eine hat fünf Kinder, der andere nur eins oder keine. Der eine hat eine sparsame, kräftige Frau, und der andere eine kränklichere, die weniger Hausarbeiten selbst tun kann – kurz, all solche Nebenumstände machen es eigentlich ganz unmöglich, eine feste Regel aufzustellen.

Den Rat aber würde ich doch den meisten meiner Leser geben, es mal selbst mit dem Zehnten für die regelmäßig wiederkehrenden und vorauszusetzenden Zwecke so zu machen, daß sie immer bei der Einnahme gleich den Zehnten weglegen. Reicht diese Kasse nicht, so kann man ja immerhin noch etwas Besonderes dazutun…!

Man macht die Erfahrung, daß Geschwister, die sich dieses regelmäßige, treue Geben angewöhnt haben, immer eine offene Hand haben für des Herrn Werk und für des Bruders Not. Wo aber keine Ordnung ist im Geben, da verengt sich das Herz und man täuscht sich selber über seine Anteilnahme am Werk des Herrn.

 

Samuel Keller – Wie man zunimmt

Wer Stärkung des Glaubens begehrt, gleicht Jung-Siegfried, der zum Schmied kommt, um sein bestelltes Schwert abzuholen. Wie er das Schwert prüfend wiegt und hebt, sagt er: „Es ist zu schwer!“ „Nein,“ lautet die Antwort, „das Schwert ist nicht zu schwer, aber der Arm ist zu schwach. Übe den Arm im Schwingen des Schwertes, und es wird dir leichter werden von Tag zu Tag.“ Im Anstrengen der Muskeln, im täglichen Brauchen seiner Kraft wächst sie und erhält sich frisch. Darum betont der Herr so oft das Tun seines Wortes!

Samuel Keller – Was willst du werden?

Eine Eisenstange, die in rohem Zustande 20 Mark wert ist, wird, zu Hufeisen verwendet, 50 Mark wert sein, zu Nähnadeln 2000 Mark, zu Federmesserklingen 16000 Mark, zu Uhrfedern 1000000 Mark. Was soll aus dir gemacht werden? Wunderst du dich, daß du abermals in die Glut und abermals auf den Amboß und unter den Hammer kommst? Wie gut ist es doch, daß du nicht darüber befragt wirst, was Jesus aus dir machen soll, denn du würdest bei deiner Kreuzesflucht und Leidensscheu am liebsten als nutzlose Eisenstange im Winkel verstauben oder verrosten wollen, wenn es nur keine Trübsal kostete, etwas anderes zu werden.

Samuel Keller – Treue im Kleinen

Sorgen Sie noch nicht um eine großartige Liebestätigkeit außer dem Hause, so lange sie körperlich noch so leidend sind, wie sie schreiben. Zu Hause gibt es auch genug kleine, schüchtern aufwachsende Sündenkeime im Verkehr der Nächsten untereinander. Bieten Sie daheim ihre ganze Liebesmacht auf, sie zu töten. Wer im kleinsten Kreise seine Treue und Echtheit nie gründlich erprobt hat, wird schwerlich auf Fremde in die Ferne als Salz und Licht segensreich wirken. Außerdem steht ihnen, solange sie als kränklich und schonungsbedürftig gelten, ein besonderes Recht zu, auch lieb und gut zu denen zu sein, die sie pflegen. Machen sie es gut mit diesen kleinen Segensgelegenheiten, dann kann der Herr sie später über mehr setzen! „Wie fruchtbar ist der kleinste Kreis, wenn man ihn treu zu pflegen weiß!“

Samuel Keller – Reif werden

Merkwürdiges Ding, dieses Menschenherz! Reifer sein möchte es schon als andere; aber Reifwerden kostet zuviel Enttäuschung und Herzweh, zuviel Hitze und Trockenheit. Daher sah ich so viele alte Christen sich sträuben gegen das Reifwerden! Unreif können aber die Weizenkörner weder aufbewahrt werden noch auch als Same ausgesät werden. Alle Frucht muß wieder Same werden. Und da kommen sie sich todunglücklich vor, wenn der Lebensweg stiller wird und die Sinne nachlassen. Es dreht sich doch nicht um ein langes Schlürfen an dem Erdenbrunnen, sondern um das Ausreifen der Persönlichkeit. Unter einem Regenschirm oder einem Schutzdach aus Brettern reift kein Weizen, sondern nur unter Sonnenglut. Also sprich zu deiner Seele: Was betrübst du dich, wo du danken und jauchzen solltest! Reifsein ist das letzte Ziel, die letzte Aufgabe! Gott sei Dank für jedes Angreifen davon!

Samuel Keller – Nichthörenwollen

„Ihr müßt lauter sprechen, ich habe die Krankheit des Nichthörenwollens!“ sagt Shakespeare irgendwo. Jetzt will ich nicht an die vielen denken, die an dieser Krankheit leiden, ohne es recht zu wissen, und an denen jede Predigt abprallt, sondern ich sinne dem nach, was mich an diesem Worte trifft. Wie oft war mir irgend etwas durch leisen Druck im Gewissen, durch ein Unbehagen und Gefühl des Mangels als gegen Gottes Willen und gegen meine eigene bessere Überzeugung klar geworden. Aber die Krankheit des Nichthörenwollens verschlang den leisen Warnungsruf. Als ob es nicht Mittel genug gäbe, solche Stimmen schnell zu übertönen! Dadurch setzte sich erst die Schuld wie eine dünne Schicht von Eis an, und Gott mußte lauter mit mir sprechen. Demütigungen, schmerzliche Erfahrungen aller Art dröhnten nur so im Ohr der Seele, und wenn ich mich nicht verstocken wollte, mußte ich jetzt wohl hören! Wer nicht hören will, muß fühlen. Herr, heile mich von der Krankheit des Nichthörenwollens!

Samuel Keller – Gesegnetes Richten

Du sagst: „Ich bin in einem Gottesgericht drin!“ Ob das ganz wahr ist? Manchmal scheint uns etwas so, was einfach die natürliche Kehrseite unserer Stellung zum Herrn sein muß. War des Satans Engel, der Paulus körperlich peinigte wie mit Faustschlägen, ein Gottesgericht oder machte er bloß Platz für die Offenbarungen von Gottes Kraft mitten in der Schwachheit des Paulus? Aber wollen wir annehmen, du seist wirklich in einer Gerichtszeit drin, die von oben über dich verhängt ist. Was schadet das? Wenn Gott dich verwerfen wollte, würde er dich nicht richten, sondern einfach in Weltseligkeit verderben lassen. Daß er dich richtet, ist ein Zeichen, daß er dich reinigt und zu wichtigerem Dienste zurüstet. Du sollst freier von dir selbst werden, damit deine Früchte den Nebengeschmack deiner Eigenart verlieren! So hebt und hilft ein Gottesgericht seinen Kindern voran. Gesegnet sei das Gericht, das diesem Zweck dient und ihn erreicht!

Samuel Keller – Ganz wahr

Wer hätte es noch nicht an sich selbst beobachtet, daß jede Unwahrheit im Verhältnis zu andern einen befangen, unfrei macht, wenn wir ihnen gegenüberstehen. Es ist, als ob man sich ununterbrochen in Verteidigung befände, um zu verhüten, daß dieses Stück unserer Seelenblöße nicht entdeckt werde. Umgekehrt: Ist das nicht das Erquickendste im Umgang mit Menschen, die wir wirklich lieben und denen wir ganz vertrauen, daß wir ihnen das beste Gewissen in bezug auf unsere Stellung zu ihnen entgegenbringen? So müssen wir doch auch Gott gegenüber immer ganz aus der Wahrheit sein, denn ihm gegenüber verschlägt doch keine Verstellung. Haben wir uns aber im täglichen Umgang mit Gott an volle Aufrichtigkeit gewöhnt, dann ist doch jede Unwahrheit im Umgang mit Menschen ein störender Fremdkörper, und wir dürfen nicht ruhen, bis so etwas entfernt wird. Wie reich würden wir dann selbst durch einfache, „ungebildete“ Menschen belohnt werden, weil wir ihres Herzens goldenes Vertrauen verdienen!

Samuel Keller – Ermattet

Wenn die Tage der großen Opfer und Stürme da sind, richtet sich unser Herz auf, als ahnten wir, wir werden gewaltig geschüttelt, aber jetzt wachsen wir auch durch all das Große, was uns so aufpeitscht. Aber wenn die Tage leise und trübe dahinfließen wie Spülwasser – kein Sonnenschein und kein Regenguß – alles fahle Dämmerung, kleine Allerweltsschwierigkeiten, dann ermattet das Herz am leichtesten. Gilt es in solchen Zeiten nicht besonders, daß man im Gebet sich mit dem Größten befaßt und sein Wort auf sich wirken läßt? Sein Wort hat in solchen Tagen nichts von seiner Schönheit und Kraft eingebüßt; es hat für jeden Tag eine besondere Seite von Güte und Kraft; es ist alle Morgen neu! Und wie die Tage sein werden, so wird seine Kraft auch sein!

Samuel Keller – Der Scheinwerfer

Es kommt nicht darauf an, daß du seltsame Gedanken und schöne Aufklärung über das Wesen des Heiligen Geistes selbst bekommst, sondern er will dir nur Jesus wichtig machen. Er bleibt selbst gern im Dunkel, wenn Jesus nur hell beleuchtet wird. Darin ist er wie ein Scheinwerfer, der sein Licht auf einen bestimmten Punkt in der Ferne sammelt. Wo er hingerichtet ist, wird alles hell und deutlich – während das Schiff, von dem er ausgeht, selbst im Dunkel bleibt. So wirft der Geist seine Strahlen auf die zwei Punkte: dein eigenes sündliches Verderben und Jesu große, seligmachende Gnade. Erkenne in diesem Licht deine Not und deinen Heiland und nimm dessen Gnade an, dann hat der Geist sein wichtigstes Werk mit Erfolg an dir ausgerichtet.