Hugo von St. Victor: Liebe

Die Liebe erleuchtet die Vernunft, reinigt das Gewissen, erheitert das Herz; die Liebe zeigt Gott. Eine Seele, in der die Liebe wohnt, wird vom Stolze nicht aufgeblasen, vom Neide nicht verzehrt, vom Zorne nicht zerrissen, vom Geize nicht verblendet; immer ist sie rein und keusch, ruhig und fröhlich, friedlich, gütig und bescheiden. In wem Gottes Liebe wohnt, der denkt immer, wie er die Welt verlassen, wie er zum Himmel gelangen, wie er den wahren Frieden finden könne. Mag er gehen, mag er sitzen, mag er wirken, mag er ruhen, mag er thun, was er will, sein Herz bleibt bei Gott. Schweigend gedenkt er Gottes, redend wünscht er nichts anderes als von Gott und Gottes Liebe zu reden. Alle ermahnt er zur Liebe und Allen empfiehlt er die Liebe, Allen beweist er nicht bloß mit Worten, sondern auch mit der That, wie süß die Liebe Gottes und wie bitter und trübe die Liebe der Welt ist. Er verlacht dieser Welt Pracht, schilt ihre Sorge, zeigt, wie thöricht es ist, auf vergängliche Dinge zu vertrauen. Er staunt über die Blindheit der Menschen, die Solches lieben, er meint, daß Allen süß sein müßte, was ihm schmeckt, daß Alle sehen müßten, was er sieht. So komm denn, du selige Liebe, auch zu uns, mache unsere Sehnsucht weit, mache unser Herz breit, daß es Gott als Gast und Bewohner in sich aufnehmen kann.