Hugo von St. Victor: Liebe

Es ist etwas Großes um die Liebe. Es verliert, was er lebt, wer nicht liebt. Wo die Liebe eintritt, da gewinnt sie alle andern Empfindungen und nimmt sie gefangen. Die Liebe genügt und gefallt um ihrer selbst willen, sie ist Verdienst und Lohn, Same und Frucht zu gleicher Zeit. Die Liebe macht aus zweien Einen Geist, bewirkt, daß sie dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen. Die Gott liebende Seele wird von Sehnsucht getragen und gehoben, sie schwingt und stiehlt sich gleichsam aus dem Körper heraus, wenn sie seine unaussprechliche Güte kostet. Die Liebe vergißt Ansehn und Würde, und weiß nichts von Verdiensten. Die Liebe giebt Vertrautheit mit Gott, die Vertrautheit Kühnheit, die Kühnheit Genuß, der Genuß Verlangen. Die Liebe weckt‘ die Seele aus dem Schlafe, mahnt und erweicht sie und verwundet das Herz. Die Liebe erhellt das Dunkle, öffnet das Verschlossene, erwärmt das Kalte, besänftigt den rauhen, zornbegierigen und ungeduldigen Sinn, vertreibt die Laster, unterdrückt fleischliches Gelüst, bessert die Sitten. Das Alles thut die Liebe, wann sie da ist; weicht sie aber, so wird die Seele lau und schlaff, gleich als wenn man einem kochenden Geschirr das Feuer entzieht.