Hugo von St. Victor: Vom Lauf der Dinge

Einiges in der Welt ist erst jüngst entstanden, Anderes schon längst untergegangen; Einiges hat die Mitte erreicht, Anderes ist im Beginnen; Alles aber fließt dahin und strebt nach einem gemeinsamen Orte. O großer Strom, wohin rauschest du? Eine geringe Quelle ist dein Anfang, du läufst und wächsest, und wirst wieder verschlungen. O Quelle, die nie versiegt, o Lauf, der nie ruht, o Abgrund, der nie erfüllt wird! Die Eitelkeit gebiert’s, die Sterblichkeit reißt es fort, und Alles verschlingt der unersättliche Tod. Immer eilt die Gegenwart davon, immer folgt ihr die Zukunft nach, und, weil ein ewiger Wechsel ist, so scheint ein ewiger Bestand zu sein. Denn das Auge des Sterblichen ist kurzsichtig und auf das Einzelne gerichtet; es erhebt sich nicht zur Anschauung des Ganzen. Hören daher die Menschen von der Veränderlichkeit der Dinge, so staunen sie und verwundern sich, als ob neuerdings sich begeben hätte, was doch schon vor Alters etwas Altes war. Mir scheint Alles wie im Aufbruche zu sein, ein Geräusch der ganzen Natur trifft meine Ohren, die da läuft, um zu ihrem Endziele zu gelangen. Wo sind unsre Väter, wo Alle, in deren Liebe und Freundschaft wir uns glücklich fühlten? O alte Zeit, wo bist du hin? Einst, da du noch warest, da liebte ich dich; jetzt, da du nicht mehr bist, liebe ich dich noch immer, und doch möchte ich nicht, daß du mir wiederkehrtest. Was ist das für ein unerhörtes Ding, daß man etwas liebt und seine Gegenwart nicht wünscht? Wer deutet meinem Herzen dieses wunderbare Gefühl? Wohl mag ich darum nicht deine Rückkehr wünschen, weil ich lieber dort zu sein verlange, wo du jetzt bist. Einst liebte ich dich verkehrt, weil ich dich gern da hätte bleiben lassen, wo ich war; jetzt liebe ich dich besonnener, weil ich dort sein will, wo du ewig stehst. Ich bin in der Verbannung, du im Vaterlande, und darum werde ich nicht müde, deiner zu gedenken, weil ich in der Erinnerung an dich gleichsam zum Vaterlande zurückeile. O wie süß ist es, im fremden Lande der Vergangenheit zu gedenken!