Hugo von St. Victor: Die Eitelkeit der Dinge

Sage mir, was siehst du? Ich sehe Leute auf Schiffen fahren. In tiefer Stille ruht das Meer, die Luft ist heiter, sanft und günstig wehen die Winde. Man speist in den Schiffen, man singt zu Leiern, Flöten und Cithern allerlei schöne Gesänge. Das Wasser selbst tönt den Klang zurück, und die Fische des Meeres kommen in Schaaren herbei, um durch ihr Spiel die Freude noch zu vermehren. Aber nun verfolge einmal den Lauf der Schiffe und sage mir, was siehst du weiter hin? Ach, ich sehe, wie der Himmel rundum schwarz wird, wie Stürme daher brausen und die Wolken wild durcheinander jagen, wie das Meer schäumt, die Fluchen sich thürmen, das Schiff mit der Mannschaft zu Grunde geht. Ach welche Noth ist nun der kurzen Herrlichkeit gefolgt! Dieselben Fische, die vorher mit euch spielten, verschlingen euch nun! Sage mir, was siehst du ferner? Ich sehe Kaufleute mit Kameelen und Wagen. Kostbare Waaren führen sie bei sich, hoffen großen Gewinn, ziehen heiter und fröhlich ihres Weges. Was siehst du aber weiter hin? Ich sehe ein Heer von gewaffneten Räubern plötzlich aus dem Versteck hervorbrechen, ans die Kaufleute losstürzen, sie erschrecken, berauben, in die Flucht jagen und tödten. Ach, welches Elend ist nun der kurzen Freude gefolgt! Sage mir, was siehst du weiter? Ich sehe ein Haus, voll von Reichthümern aller Art. Der Hausvater hat seine Lust an seinen Kindern, an der zahlreichen Dienerschaft, an vielen Heerden, an gefüllten Scheuern, an mannigfachen Genüssen. Was merkst du aber bei alle dem? Je reicher er ist, desto größere Sorge drückt ihn. Er fürchtet, das Erworbene möchte nicht ausreichen, Starke möchten ihn überfallen, das Gesinde möchte untreu sein. Sage mir, was siehst du weiter? Ich sehe eine Hochzeit feiern in großer Pracht, bei köstlichen Speisen, unter jubelnder Freude. Aber warum achtest du nicht auf das, was folgt? Wie selten findet sich Eintracht unter den Gatten, wie viele Sorgen treten ein, wie viele Mühe macht die Erziehung der Kinder und die Erhaltung des Hauswesens, wie leicht entspinnt sich Argwohn zwischen Mann und Frau! Sage mir, was siehst du noch? Ich sehe gelehrte Schulen, wo man sich mit verschiedenen Wissenschaften beschäftigt. Das scheint die schönste Arbeit zu sein, weil sie der Weisheit gilt. So sagst du, aber du bedenkst es nicht recht. Diese thörichten Pilger mühen sich mit der Erforschung der geschaffenen Dinge ab und vergessen oft dabei, was Gottes, ihres Schöpfers, ist. Was hilft es doch dem Menschen, wenn er die Natur aller Dinge aufs Genaueste weiß, aber nicht bedenkt, woher er gekommen ist und wohin er geht? wenn er auf dem Wege sich festsetzt und der Reise nach der Heimath vergißt? So bleibt es denn wahr, was der Prediger Salomo sagt: Alles ist ganz eitel!