August Tholuck – Wahrheit

Geliebte, laßt uns alle ohne Unterschied aufs neue mit uns zu Rate gehen, von welcher Art unser Wahrheitsdurst sei! Haben wir es auch recht bedacht, daß das Wesen einer Religion ebenso gewiß nur dadurch verstanden werden kann, daß sie erlebt wird, als die Kraft einer Arznei nur kennt, wer sie einnimmt? So verlangt denn auch unsere Religion zuallernächst eine Prüfung durch die Tat, durch das Leben selbst. Glaubt jemand, daß er nur mehr Wissen bedarf und nicht Heilung, nun, der braucht freilich den nicht, der als ein Heiland in die Welt gekommen, und der überall sich dafür ankündigt, daß er für die Kranken gekommen sei. Vielleicht haben wir alle zuviel Zeit damit verloren, die Arznei von außen zu besehen oder auch zu zergliedern, statt sie einzunehmen. Die ihr nicht von Herzen glauben könnt, ihr habt vielleicht alle den Grund dafür an einer Stelle gesucht, wo er nicht wirklich liegt. Wie, wenn er bei euch allen darin läge, daß die Wahrheit eures Kopfes bei euch zu wenig die Sache eures Lebens ist? Wenn das auch der Grund wäre, warum euch das Geheimnis von Christi Worten noch nicht aufgegangen ist? „So jemand will den Willen des tun, der mich gesandt hat“, o daß das Wort euch vor die Seele trete, daß es euch beschäme, daß es euch zur Selbsterkenntnis führe, sooft ihr darüber zu klagen beginnt, den Weg zum Glaubenslande nicht finden zu können!