Samuel Keller – Ganz wahr

Wer hätte es noch nicht an sich selbst beobachtet, daß jede Unwahrheit im Verhältnis zu andern einen befangen, unfrei macht, wenn wir ihnen gegenüberstehen. Es ist, als ob man sich ununterbrochen in Verteidigung befände, um zu verhüten, daß dieses Stück unserer Seelenblöße nicht entdeckt werde. Umgekehrt: Ist das nicht das Erquickendste im Umgang mit Menschen, die wir wirklich lieben und denen wir ganz vertrauen, daß wir ihnen das beste Gewissen in bezug auf unsere Stellung zu ihnen entgegenbringen? So müssen wir doch auch Gott gegenüber immer ganz aus der Wahrheit sein, denn ihm gegenüber verschlägt doch keine Verstellung. Haben wir uns aber im täglichen Umgang mit Gott an volle Aufrichtigkeit gewöhnt, dann ist doch jede Unwahrheit im Umgang mit Menschen ein störender Fremdkörper, und wir dürfen nicht ruhen, bis so etwas entfernt wird. Wie reich würden wir dann selbst durch einfache, „ungebildete“ Menschen belohnt werden, weil wir ihres Herzens goldenes Vertrauen verdienen!