Gerson – Die Seele im Hohenlied

Die heilige Seele im Hohenliede, da sie die schweren Bürden irdischer Liebe fühlt und sich ihrem Freunde zu nahen wünscht, bricht in die Worte aus: Ziehe mich Dir nach; wir wollen zu dem Duft Deiner Salben eilen! So läßt der allmächtige Gott seinen Kindern eine gewisse Süßigkeit, einen Wohlgeruch, einen innern Geschmack, eine heilige Freude, eine Klarheit, einen Frieden, eine Herzensweite empfinden und einen verborgenen Klang vernehmen. Kurz, es giebt ein Ziehen und Wirken Gottes im Herzen, das mit Worten nicht ausgeredet werden kann. In solchen Augenblicken macht sich die fromme Seele los von den Banden der Weltliebe, und nichts Irdisches kann sie mehr zurückhalten: kein Reichthum, keine Fleischeslust, keine sinnliche Genußsucht, kein Spiel, kein Scherz. Weltmenschen, die von falscher Liebe geblendet sind, wundern sich stark darüber, verlachen und verspotten eine solche Seele, darum, weil sie keine Ahnung von dem haben, was in ihr vorgeht. So geschieht es wohl, daß unter einer großen Zahl von Hunden, die in ein Gehege eingeschlossen sind, die vier Jagdhunde, welche sich bei ihnen befinden, sofort unruhig werden, wenn Hirsche in die Nähe kommen; daß sie keine Mauer, kein Gesträuch, keinen Bach, keinen Felsen scheuen, um ihnen nachzusetzen, während die übrigen bei einem tödten Leichname stehen bleiben, um ihn zu verzehren, oder wenn sie ja durch die Flucht jener in Bewegung gesetzt werden, wohl einige Schritte mit fortlausen, da sie aber des seinen Geruches entbehren, bald wiederum zu ihrem Aase zurückkehren.