Franz von Assisi – Testament

Der Herr verlieh mir, Bruder Franz, den Anfang des neuen Weges auf folgende Weise: Als ich in Sünden lebte, kam es mir sehr bitter an, Aussätzige zu sehen. Aber der Herr selbst führte mich unter sie, und ich erwies ihnen Barmherzigkeit. Als ich von ihnen ging, ward mir dasjenige, was mir vorher bitter vorgekommen war, in Süßigkeit für den Geschmack des Leibes und der Seele verwandelt. Nachher zögerte ich noch ein wenig, dann verließ ich diese Welt. — Der Herr verlieh mir einen solchen Glauben, daß ich in den Kirchen in aller Einfalt betete: „Wir beten Dich an, Herr Jesus Christus, hier und in allen Deinen Kirchen in der ganzen Welt, und wir danken Dir, weil Du durch Dein heiliges Kreuz die Welt erlöst hast.“ — Der Herr verlieh mir auch bis heute einen solchen Glauben im Hinblick auf die Priester, die nach der Form der heiligen römischen Kirche leben, und zwar um ihrer Weihe willen, daß ich mich an sie halten will, selbst wenn sie mich verfolgen würden. Und hätte ich soviel Weisheit wie Salomon und fände ärmliche Weltpriester in den Pfarreien, wo sie sich aufhalten, ich wollte nicht gegen ihren Willen predigen. Sie und alle andern will ich fürchten, lieben und ehren wie meine Herren. Ich will nicht auf Sünde bei ihnen achten, weil ich den Sohn Gottes in ihnen erkenne, und weil sie meine Herren sind. Das tue ich, weil ich hier auf der Welt mit leiblichen Sinnen nichts von dem Sohne des allerhöchsten Gottes sehe als seinen heiligsten Leib und sein heiligstes Blut, das sie, die Priester, empfangen und allein den anderen spenden. Diese heiligen Geheimnisse will ich über alles geehrt, verehrt und an würdigen Orten aufbewahrt wissen. Wo ich seine heiligsten Namen und Worte der Schrift an ungeziemenden Orten finde, will ich sie auflesen, und ich bitte, man möge sie ebenso behandeln und an einem passenden Orte bewahren. Alle Theologen, und die an uns den Dienst des heiligen Wortes Gottes versehen, sollen wir ehren und hochachten, denn sie spenden uns den Geist und das Leben. — Als dann der Herr mir Brüder gab, war niemand, der mit zeigte, was ich tun solle, sondern der Allerhöchste selbst offenbarte mir, daß ich nach der Form des heiligen Evangeliums leben solle. Ich ließ es in wenigen, einfachen Worten niederschreiben, und der Papst bestätigte es mir. — Die dann kamen, um unser Leben mit uns zu teilen, gaben alles, was sie besaßen, den Armen; sie waren zufrieden mit einem Habit, der außen und innen geflickt war, sowie mit einem Strick und Beinkleidern; und mehr wollten wir nicht haben. — Die von uns Kleriker waren, sprachen die Tagzeiten wie andere Kleriker; die Laien beteten das Vaterunser. Wir hielten uns gerne in den Kirchen auf. Wir waren einfältig und allen untertänig. Ich arbeitete mit meinen Händen und will es heute noch, und ich verlange entschieden, daß alle anderen Brüder Handarbeit verrichten, wie es sich geziemt. Die es nicht können, sollen es lernen, nicht um aus der Arbeit Gewinn zu ziehen, sondern um des guten Beispiels willen und um den Müßiggang zu vertreiben. Wenn aber der Lohn für die Arbeit ausbliebe, so laßt uns zur Tafel Gottes unsere Zuflucht nehmen, indem wir uns an den Türen Almosen erbitten. — Einen Gruß hat mir der Herr offenbart; wir sollten sagen: „Der Herr gebe dir den Frieden!“ —

Die Brüder sollen darauf achten, daß sie die Kirchen, die ärmlichen Wohnungen und alles andere, was man für sie einrichtet, überhaupt nicht annehmen, es sei denn alles der heiligen Armut entsprechend, die wir in unserer Regel versprochen haben. Denn wir sollen darin stets nur Herberge wie Fremdlinge und Pilger haben. — Im Namen des Gehorsams befehle ich nachdrücklich allen Brüdern, sie seien wo immer, daß sie sich nicht unterstehen, irgendein Privileg bei der römischen Kurie zu erbitten, weder auf unmittelbarem Wege noch durch Mittelspersonen, weder für eine Kirche noch für einen andern Ort, weder unter dem Vorwand der (ungehinderten) Predigt noch um äußerer Verfolgung zu entgehen; vielmehr, wo man sie nicht aufnimmt, sollen sie in ein anderes Land fliehen, um mit dem Segen Gottes die Wandlung der Herzen herbeizuführen. — Es ist mein fester Wille, dem Generalobern dieser Brüderschaft und außerdem dem Guardian, den er mir geben will, zu gehorchen. Ich will so in seinen Händen ein Gefangener sein, daß ich nirgends hingehen noch etwas tun kann außerhalb des Gehorsams, ohne seinen Willen, weil er mein Herr ist… (Hier folgen einige Anweisungen für die Sicherung des Tagzeitengebetes und der Glaubensreinheit, ja, Rebellen sollen sogar dem Ordensprotektor übergeben werden). — Die Brüder sollen nicht sagen: „Das ist eine andere Regel.“ Denn es ist eine Erinnerung, eine Mahnung, ein Zuspruch und mein Testament. Ich, kleiner Bruder Franz, hinterlasse euch dies, meinen gesegneten Brüdern, zu dem Zwecke, daß wir die Regel, die wir dem Herrn versprochen haben, im katholischen Geiste besser beobachten. — Der Generalobere und alle andern Obern und Kustoden sollen im Gehorsam verpflichtet sein, diesen Worten nichts beizufügen noch abzuziehen. Sie sollen dieses Schriftstück stets neben der Regel bei sich haben, und wenn sie auf den Ordensversammlungen jeweils die Regel lesen, soll man auch diese Worte lesen. — Im Namen des Gehorsams befehle ich mit Nachdruck meinen Brüdern, sowohl Priestern wie Laien, daß sie weder der Regel noch diesen Worten eine Auslegung beifügen, etwa indem sie sagen: „Das ist so und so zu verstehen“, sondern wie der Herr mir verliehen hat, die Regel und diese Worte einfach und lauteren Herzens zu diktieren und zu schreiben, so sollt ihr sie auch einfach und lauter ohne Glosse verstehen und in heiligem Tun bis ans Ende befolgen. — Jeder, der dies befolgt, möge im Himmel mit dem Segen des höchsten Vaters und auf Erden mit dem Segen seines geliebten Sohnes erfüllt werden, zugleich mit dem heiligsten Tröstergeist und allen Kräften des Himmels und mit allen Heiligen. — Ich, euer kleiner Bruder Franz, euer Knecht, bestätige euch innerlich und äußerlich, soviel ich kann, diesen allerheiligsten Segen. Amen.

 

Jakob Gerhard Engels – Die Liebe höret nimmer auf

O, wenn wir in Wahrheit erlöst sind von dem eigenen Leben, von dem eigenen Ich, wenn die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist durch den Heiligen Geist, wenn die Liebe Christi uns dringet, und wenn wir in dieser Liebe untereinander verbunden sind, dann wissen wir, diese Liebe höret nimmer auf! O, meine Freunde, so manche meiner Lieben sind nicht mehr hier, sie sind gestorben, und es mag wohl auch bei dir so sein! Aber wenn ich an meine Lieben denke, deren Stätte leer geworden ist und in deren leibliches Angesicht ich nicht mehr sehen kann, ich meine, ich hätte sie noch lieber als früher, meine Liebe zu ihnen hätte noch zugenommen, wäre noch wärmer, inniger, reiner.

O, wie steht ihr Bild mir vor Augen! Da tritt bald der eine, bald der andere vor mein inneres Auge hin, — treue Zeugen der Wahrheit, die früher in Erweisung des Geistes und der Kraft das Evangelium gepredigt haben, oder liebe Angehörige, Gottes Kinder, die nicht mehr hier sind, — ihr Bild tritt vor mich hin, freilich nicht mehr in menschlicher Schwachheit, sondern in der Klarheit des Herrn. Wie fühlt man sich so innig mit ihnen verbunden, mit diesen lieben Gotteskindern, die nicht mehr hier auf Erden sind, die man früher gekannt und geliebt hat! Ja, die Liebe höret nimmer auf.

Und darin haben wir auch den ganz sicheren Beweis, daß wir uns Wiedersehen. Wenn die Liebe nimmer aufhört, dann muß sie die, die in dieser Liebe untereinander verbunden sind, wieder zusammenführen. Es kann nicht anders sein, trotz Trennung, trotz Tod, trotz Grab. Die Liebe höret nimmer auf.

Jakob Gerhard Engels – Herzensgüte

Unter Gütigkeit ist Herzensgüte verstanden, das Wohlwollen gegen jedermann, die herzliche Gesinnung gegen den Nächsten. Herzensgüte ist etwas Innerliches, kommt aber zum Vorschein im Umgang mit andern. Wie die Freundlichkeit ist sie ein Abglanz des inneren Friedens und kommt jedermann zugute, unsern Hausgenossen, unsern Nachbarn, allen Menschen, mit denen wir umgehen. Die Gütigkeit dient allen in Liebe. Obenan stehen die Kranken. Wir besuchen sie, trösten sie, gewähren ihnen tatkräftige Hilfe. Sind wir ihnen ferne, so suchen wir sie im Geiste auf, gedenken ihrer unwillkürlich, brauchen uns nicht dazu zu zwingen.

Ferner kommt die Herzensgüte unsern Feinden zugute. Du und ich, wir haben zwar keine Feinde. Wir sind niemandem böse, mögen die Menschen uns auch zürnen, weil wir nicht mit ihnen ihre verkehrten Wege gehen, vielmehr sie deshalb strafen müssen. Denn die Herzensgüte kann auch sehr ernst reden, hat sie doch das Wohl des andern im Auge und haßt sie doch die Sünde, welche die Menschen um ihr zeitliches und ewiges Heil bringt und in ihr Elend hineinstürzt. Darum strafen wir die Sünden unserer Feinde, aber sie selbst lieben wir und sammeln, wo sich Gelegenheit dazu findet, feurige Kohlen auf ihr Haupt. Wie es in der Schrift heißt: Hungert deinen Feind, so speise ihn!

Wo Herzensgüte ist, da ist man beständig und gleichmäßig, nicht mit Launen geplagt, heute so und morgen so. Wir gehen, wie Tersteegen es ausdrückt, in süßer Gleichheit fort. Nichts ist wohltuender für unsere Hausgenossen, als wenn wir vor ihnen und mit ihnen in dieser gleichmäßigen Freundlichkeit wandeln, nicht verkehrt, nicht ungeduldig, nicht verstimmt, nicht auffahrend. Und diese Herzensgüte gewinnt auch für den Herrn. Denn wo Herzensgüte ist, da sinnt man immer darüber nach: Wie kann ich diesem oder jenem zum Segen werden? Dann wird man so vorsichtig in seinem Wandel, nimmt sich so zusammen in seinen Stimmungen, damit man bei andern durch launisches Wesen keinen Anstoß erregt und ihrem Seelenheil schadet.

Jakob Gerhard Engels – Freundlichkeit

Was ist Freundlichkeit? Freundlichkeit ist der Abglanz des inneren Herzensfriedens im Verkehr mit andern, im Liebes- und Friedensumgang mit dem Nächsten. Freundlichkeit ist gleich der Geduld nur dort zu finden, wo das lebendige Bewußtsein ist, daß man alles im reinen hat. Die Geduld ist die Erweisung des Friedens in den mancherlei Leiden des Lebens. Freundlichkeit ist der Abglanz dieses Friedens nach außen hin. Sie kommt jedermann zugute, zunächst allerdings unsern Hausgenossen und Angehörigen, mit denen wir ja am meisten zusammen sind; dann aber auch denen, mit denen wir in einem ferneren Verkehr stehen, den Nachbarn und allen, mit denen unser Lebensweg uns irgendwie zusammenführt.

Im Worte Gottes ist öfter von der Freundlichkeit die Rede. Ich erinnere jetzt an zwei Stellen. Die eine steht im Epheserbrief: „Seid untereinander freundlich, herzlich, und vergebet einer dem andern, gleichwie Gott euch vergeben hat in Christo!“ (Eph. 4, 32). Die andere Stelle im Kolosserbrief ist wohl noch bekannter: „So ziehet nun an als die Auserwählten Gottes, Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld!“ (Kol. 3, 12).

Diese liebliche Frucht des Geistes wirkt wie belebender Sonnenschein; besser kann ich sie nicht vergleichen. Das gilt freilich zunächst von der Freundlichkeit und Leutseligkeit unseres Heilandes. Sie ist der belebende Sonnenschein in diesem mühseligen Leben, und die Gläubigen erfahren neben dem heiligen Ernst des Herrn doch auch täglich von seiner großen Freundlichkeit und Liebe, die ihr Herz zum Loben und Preisen bringt.

Aber doch gilt es in zweiter Linie auch von menschlicher Freundlichkeit, daß sie wirkt wie Sonnenschein und erquickender Tau. Kürzlich sah ich diese Wirkung der Freundlichkeit noch an einem jungen Mädchen. Es lebte in einem unfreundlichen Hause. Kein freundlicher Blick, kein freundliches Wort, keine freundliche Hand. Man ließ sie es empfinden, daß ihre Anwesenheit eher lästig als willkommen sei, und daß es eine Gnade sei, daß sie im Hause aufgenommen sei. Und das Mädchen kränkelte in ihrem Gemüt dahin. Aber wie lebte es auf, als es in eine andere Umgebung kam, wo es freundliche Gesichter sah und nicht mehr das Gefühl hatte, daß es den andern eine beschwerliche Last sei! Ja, Freundlichkeit ist belebender Sonnenschein.

Engels, Jakob Gerhard – Das Ziel der Heiligung

Nach Gal. 4, 19 soll Christus eine Gestalt in uns gewinnen. Was heißt das? Es heißt: Wir sollen den alten Menschen mit seinen Werken ausziehen und sollen den neuen Menschen, sollen Christum anziehen; wir sollen christusähnlich werden. Es ist nicht genug, daß sich etwas Christliches an uns findet, daß wir christliche Worte reden, je und dann christliche Gefühle und Empfindungen haben, zuweilen ein christliches Werk tun, sondern Christus soll in uns wohnen, soll aus uns heraus reden und handeln. Sein göttliches Leben soll an uns zu sehen sein, so daß, in ähnlicher Weise, wie der Heiland zu Philippus sagt: „Wer Mich siehet, der siehet den Vater“, es von uns heißen kann: Wer sie siehet, der siehet ihren Meister; sie sind gesinnt wie Er, sie reden wie Er, sie handeln wie Er.

Ja, ein hohes Ziel ist es, das der Apostel mit den Worten ausdrückt: auf daß Christus in euch eine Gestalt gewinne. Andere Sprüche bestätigen es. Ich führe nur zwei an, den einen, wo Paulus von sich selbst sagt: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir; denn was ich jetjt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebet hat und sich selbst für mich dargegeben (Gal. 2, 10). Der andere lautet: Nun spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht; und wir werden verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zu der andern, als vom Herrn, der der Geist ist (2. Kor. 3, 18).

Wenn wir das hören, kann uns das nicht demütigen? Hat Christus in uns eine Gestalt gewonnen? Ist sein göttliches Leben an uns zu sehen? Ist Christi Sinn unser Sinn, Christi Wandel unser Wandel? Wenn wir an unser tägliches Leben denken, an unsern Ausgang und Eingang, an unser Reden und Schweigen, an unsern Handel und Wandel, an unsere Einsamkeit und Gemeinsamkeit, ist wohl bei uns, wie der selige Ter steegen es ausdrückt, in Wort und Werk und allem Wesen nur Jesus und sonst nichts zu lesen?

Ach, wie wird uns bei solchen Fragen, wenn sie dem Herzen recht nahe kommen, zumute! Wie kommt uns ein Schämen an!

Alfred Christlieb – Mnason

Nach Apostelgeschichte 21,16 war Paulus auf dem Wege nach Jerusalem mit seiner Begleitung bei einem aus Zypern stammenden Christen namens Mnason zur Herberge. Die Heilige Schrift hat uns den Namen dieses Mannes aufbewahrt.

  1. Wenn er auch kein Apostel war wie Paulus, kein Evangelist wie Philippus, kein Prophet wie Agabus, so war er doch ein Jünger. Schon dieser Titel gilt im Licht der Ewigkeit mehr als alle Ehrentitel der Welt.
  2. Er wird weiter „ein alter Jünger“ genannt, d. h. ein Christ, der schon lange auf dem Lebenswege war, also kein Anfänger, sondern ein solcher, der trotz aller Verfolgungsstürme und mancherlei Erfahrungen sich nicht von dem schmalen Wege hatte abbringen lassen. Wie wertvoll sind überall in der Christenheit diese „alten Jünger“! Wie können sie mit ihren Kenntnissen und Erfahrungen den jüngeren Christen dienen!
  3. Auch muß Mnason als ein gastfreier Jünger bekannt gewesen sein, sonst würden die Brüder aus Cäsarea, die Paulus führten, den Apostel nicht in dies Haus gebracht haben.

Gesegnet sei der Mann, der zum verachteten Jüngerkreis gehört, auf dem Lebensweg bleibt und Gotteskinder gern beherbergt! Sein Name ist wert, in Ehren gehalten zu werden.

Alfred Christlieb – Über Jaebez

Unter den vielen Namen, die in den Geschlechtsregistern an uns vorbeiziehen, wird eine Person uns näher bekannt gemacht. Das ist Jaebez. Weshalb dieser gerade? Weil er ein Mensch war, der mit Gott im Umgang stand. Unter den Scharen von Menschen, deren Namen in diesen Kapiteln genannt werden, waren gewiß auch manche, die Tüchtiges geleistet haben. Über sie geht die Geschichte des Gottesreiches hinweg, ohne etwas von ihren Leistungen zu erwähnen. Aber bei einem Beter bleibt sie stehen. Das ist im Licht der Ewigkeit wichtig.

Wenn der Herr auf einen Ort blickt, in dem viele Menschen schaffen und wirken, so ist ihm das stille Zimmer, in dem ein wahrer Beter weilt, wichtiger als hundert Paläste.

Otto Funke – Bringt der Jugend ein anziehendes Christentum!

Großes Unheil wird oft angerichtet, wenn ältere ernste Christen den jungen Leuten, die noch gar nicht in der Schule Jesu drin sind, die Enthaltungen zumuten, die ihnen selbst vielleicht aufgelegt sein mögen. Man hört es oft sagen, daß gewisse Eltern vergessen, daß sie auch einmal jung gewesen sind. Das ist ja ein sehr schlimmer Vorwurf. Die Herzen der Kinder werden den Herzen der Eltern dadurch entfremdet, wenn die Eltern nicht mit ihnen fühlen. Ja, die jungen Leute werden verbittert, wenn man ihnen das verbietet, was ihre Freude und Wonne ist, oder wenn man ihnen soviel in den Weg legt oder auch die Erlaubnis mit tiefen Seufzern begleitet.

Es versteht sich von selbst, daß die Eltern auch ihren heranwachsenden Kindern nichts erlauben dürfen, was an sich schlecht oder für sie jedenfalls schädlich ist. Aber man soll auch nicht zu schnell etwas schlecht nennen. Auf einer niedrigen Stufe des sittlichen und religiösen Lebens ist manches durchaus gut, was später wegfallen muß. Der Satz des Predigers Salomo: „Alles hat seine Zeit“ könnte in diese Dinge viel Licht bringen.

Durch ein übertriebenes, engherziges, ungeistliches Wesen wird sehr viel geschadet. Wenn das Christentum von der Jugend so angesehen wird, daß es dabei besonders aufs Verbieten und „Spielverderben“ hinauskomme, ja, dann werden wir den jugendlichsten Teil der Jugend nicht bekommen. Es tut wahrlich sehr not, den Herrn Christus als den rechten Freudenmeister und das Reich Gottes als „Friede und Freude im Heiligen Geist“ darzustellen. Echte Jünger Jesu sollen es der Jugend beweisen, daß das Evangelium einen jung erhält, daß es einem einen weiten Blick und ein offenes Herz schafft für alles, was menschlich, groß, lieblich, schön und edel ist.

O ihr Erzieher alle, bleibet jung mit der Jugend oder verzichtet darauf, Erzieher zu sein! Und ihr frommen, ernsten Christen, bleibt Menschen und empfindet mit den Menschen menschlich!

Otto Funke – Kritikgeist und Liebesgesinnung

Legion ist die Zahl derer, die überall nur zu kritikastern, zu nörgeln und zu mäkeln wissen, die mit schauerlichem Scharfsinn an allen Menschen und Menschenwerken die schlechte Seite herauszufinden wissen. O wer etwas von diesem dämonischen Genie, von dieser lieblosen Menschenkenntnis in sich trägt, der trete ritterlich ein in den täglichen Kampf gegen diesen bösen Geist und lasse nicht ab, bis er ihn ausgetrieben hat. Sonst wird ihn einmal zermalmen das Wort: „Mit dem Maß, womit du missest, wird dir gemessen werden.“

Göttlich und also auch menschlich und also erst recht christlich ist es, alles zum Besten zu kehren, bei jedem Ding, solange es irgend möglich, die gute Seite herauszufinden, an jedem verkommenen Menschen so lange herumzusuchen, bis man endlich eine weiche Stelle findet, wo er noch für Liebe und Wahrheit empfänglich ist, den schlechtesten Handlungen gegenüber, wenn auch nicht eine Entschuldigung, so doch eine mildernde Erklärung zu suchen. Unser Heiland als der König der Liebe verstand diese Kunst aller Künste wie kein anderer, das versteht sich. So deckt er die Ehebrecherin mit seinem Liebesschild und treibt doch zugleich den Haß gegen die Sünde in ihr Herz hinein. So kann er, zertreten von der Menschheit, die niemals so sündigte wie jetzt, dennoch etwas zu Gunsten der Menschen sagen: „Sie wissen nicht, was sie tun“ und er macht daraus den Schluß, daß sie noch für die Gnade fähig und also nicht reif seien für das verderbende Gericht.

Die Liebe der Jünger Christi kommt der des Meisters nicht gleich. Sie ist abgeleitet und in unreine Kanäle hineingeleitet. Aber sie ist doch auch abgeleitet in ihre Herzen, und eine Ähnlichkeit des Christussinnes muß sich bei ihnen finden lassen, gleichviel, welches Temperament sie von Natur aus haben. Die natürliche Milde, Güte und Freundlichkeit des Herzens ist ja ohne Zweifel eine köstliche Mitgift fürs Leben. Es ist aber große Gefahr vorhanden, daß sie zur Weichlichkeit, zur charakterlosen Schwäche wird, die schließlich gerade und ungerade, gut und böse nicht mehr zu unterscheiden vermag. Wer aber an den Stufen des Gnadenthrones die Lindigkeit Jesu Christi als himmlische Gnade empfangen hat, der wird mit seiner Liebe heiligen Ernst verbinden, der wird nicht nur die guten Seiten an seinen Mitmenschen entdecken, sondern auch die schlechten. Und er wird sie nicht nur entdecken, sondern auch ehrlich aufdecken, aber mit der Träne des liebenden Mitleides in seinem Auge, mit dem heilenden Balsam in seiner Hand.

Letzthin las ich von einer Dame, die einer Prostituierten nachgegangen war. Dieses unglückliche Mädchen war früher von ihr aufs ernstlichste gewarnt worden. Es hatte alles nichts geholfen. Jetzt fand unsere Samariterin die frühere Dienerin in Samt und Seide und in Verzweiflung und Elend. Was hat ihr nun die Dame gesagt? „O du arme, arme Marie, wieviel Mühe machst du deinem Heiland, dich zu retten; wieviel Schmerzen machst du dir selbst, ehe du zur Freude Gottes kommst! Du hast immer nach Liebe gehungert und hast sie nur auf falschen Wegen gesucht. Aber jetzt ist deine Stunde gekommen, wo du Jesusliebe finden sollst.“  Und sie nahm die Tiefgefallene mütterlich an die Hand, und diese ließ sich führen, und bald konnte man singen und sagen: „ Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden!“

Diese Frau war in den Fußstapfen Christi. Es ist keine Frage: Einfluß auf das Menschenherz, dauernden, veredelnden, überwindenden Einfluß haben nur diejenigen Menschen, die davon tief durchdrungen sind, daß die himmlische Liebe allmächtig und daß jedes Herz für diese allmächtige Liebe empfänglich ist, und die nun an den erstarrten Herzen das Türlein suchen, dadurch der Liebes-Sonnenschein hereinfallen kann. Das müssen sich alle Seelsorger, ja alle Pädagogen in der ganzen Welt merken. Die scharfsinnigen Kritikaster, die lieblosen Nörgler mögen an Holz und Stein, allenfalls noch an Katzen, Hunden und Affen ihre Versuche machen. Menschenherzen sindf ür ihre Künste zu schade.

Otto Funke – Lieblingssünden

Laßt mich noch auf einen sehr wichtigen Punkt hinweisen, ich meine auf die besondere Lieblingssünde. Wenn es nämlich mit dem Kampf gegen das Böse in uns etwas Rechtes werden soll, so darf man nicht dabei stehenbleiben, das Böse insgesamt zu hassen. Auch ist’s nicht genug, ein Register aller möglichen Unarten, auf denen man sich ertappt hat, zu entwerfen. Nein, du mußt die ganz besondere Sünde, an der gerade du krankst, du mußt die Stelle, wo gerade du immer wieder zu Falle kommst, entdecken.

Jeder Mensch ist ein bestimmtes Individuum, eine originaliter ausgeprägte Persönlichkeit, ganz anders wie jede andere in der ganzen Welt. So ist auch das Sündenwesen in jedem Menschen ganz individuell ausgeprägt, gerade wie auch in deinem Körper die Krankheitsstoffe eine bestimmte Gestalt oder Ungestalt angenommen haben. Der eine hat eine schwache Lunge, der andere einen kranken Hals usw., und auf diesen schwachen Punkt wirft sich nun jede Erkältung oder Erhitzung. Genau so ist’s in geistlicher Beziehung. Bei dem einen ist die Eitelkeit, bei dem andern der Geiz, bei dem dritten der Neid, bei dem vierten die Wollust das große Haupttor der Sünde, wodurch sie immer wieder einzieht.

Wenn ich aber sage „großes Haupttor“, so meine ich damit keineswegs, daß man es so leicht sehen könnte. Ja, man könnte schon, wenn man wollte. Aber wer will denn sagen „ich will“, wenn es sich darum handelt, sich selber zu erkennen? Es ist gerade das des Teufels besondere Arbeit, uns zu verblenden, daß wir unsere Lieblingssünden nicht erkennen, und es ist unglaublich, wie manchmal auch christlich-erweckte Leute ihre Schoßsünde nicht kennen, während doch alle Welt davon redet. Wie oft verbirgt sich z. B. die giftige Natter des Hochmutes oder der Eitelkeit in dem Veilchengebüsch der „lieblichsten Demut“! Wie oft zieht der rohe Fanatismus den Eliasmantel des „heiligen Eifers“ an!

Willst du nun wirklich wissen, wo gerade dein inneres Leben krankt, so mußt du vor allen Dingen ehrlich beten: „Erleuchte mich, Herr, mein Licht, ich bin mir selbst verborgen und kenne mich noch nicht!“ Sodann mußt du wachen und ernstlich darauf achten, welches der Punkt ist, von dem aus immer wieder eine Trübung deines Seelenfriedens ausgeht. Also betend und arbeitend wirst du es schon finden.

Und dann? Ja, was dann? Nun, ich denke, wenn ein Feldherr eine belagerte Festung zu verteidigen hat, so wird er ja keinen einzigen Punkt aus den Augen verlieren. Aber er wird doch vor allen Dingen seine Augen gerichtet halten auf den schwächsten Punkt.

Ihn wird er soviel wie möglich zu befestigen suchen. Hier wird er die tapferste Mannschaft hinlegen; denn hier, das weiß er, wird der Feind seinen Hauptangriff machen. Die Anwendung liegt auf der Hand…