Gerson – Sündenfall

Hüten wir uns, daß wir es in unserer Noth nicht wie kleine Kinder machen, wenn sie gefallen sind. Diese werden oft erbittert auf sich selbst, und schlagen unwillig und boshaft mit dem Nacken auf die Erde; sie beklagen ihren Fall, aber sie beklagen ihn nicht recht, weil sie allein auf ihre Schwäche zürnen, und meinen, sie wären stark genug, immerfort zu stehen. So geschieht es auch, daß wir den öffentlichen Verhältnissen, daß wir uns und unserm Nächsten zürnen, und nicht zu dem uns wenden und Hülfe von ihm erflehen, der uns allein aus Angst und Trübsal erretten kann; gleichwie das gefallene Kind den Vater oder die Mutter oder den Aufseher demüthig um Hülfe bitten sollte. Es ist uns gut, wenn Alles, was wir hier sehen, uns zur Last und Beschwerde wird. Warum dieß? Damit wir seufzend mit dem Propheten sprechen lernen: Wer giebt mir Taubenfittige, daß ich auffliege und Ruhe finde?

Gerson – Trübsal

Das Unglück des Lebens ist eine Hand, die uns aus der Tiefe der irdischen Gedanken emporhilft. Man lernt den Namen des Herrn recht anrufen und empfinden, daß er nahe ist denen, die ihn anrufen. Denn kann die Taube des Geistes nirgends mehr auf Erden den Fuß ihrer Sehnsucht feststellen, so kehrt sie zur Arche der Andacht zurück, und je mehr ringsum die Gewässer wachsen, desto höher wird sie gehoben. Wie mit dem Wetzsteine der Stahl geschärft und glänzend gemacht wird, wie mit Wermuth die Kinder der Mutterbrust entwöhnt werden, wie man Gold im Feuerofen läutert, also wird die Seele durch Trübsal vervollkommnet, und sie lernt sprechen: Siehe, auch bei der bittersten Bitterkeit bin ich in Frieden!

Gerson – Nachfolge

Ist Jemand zu einem Laster besonders geneigt, so strebe er der entgegengesetzten Tugend mit Eifer nach. Wer leicht heftig und erbittert wird, meide die Gelegenheiten zum Zorn und suche gleichsam mit Gewalt in Ruhe und Sanftmuth zu verbleiben. Wer ungeduldig ist im Leiden, der übe sich in der Betrachtung der Beispiele der Väter, zumeist Christi und der Märtyrer. Wer zu karg ist, versuche mildthätig, wer zu bedenklich ist, freieren Sinnes zu werden. Alles, wonach der Wille ohne vorhergegangene Ueberlegung mit einer gewissen Hast greift, mag es noch so gut scheinen, muß für verdächtig gehalten werden, denn solche Antriebe gehen meist von der Sinnlichkeit aus und der böse Feind hat sein Spiel darin. Es steht geschrieben: Vor der, welche in deinem Busen schläft, hüte dich, das heißt, laß die Sinnlichkeit über deine Vernunft nicht, wie die Frau über den Mann, herrschen. Kannst du sie nicht völlig überwinden, so widerstehe ihr wenigstens immerfort; solcher Streit und Kampf wird dir vor Gott als Sieg angerechnet werden. Oft gilt es höher, Stand zu halten in der Schlacht, als sofort zu siegen; auch sieht der weiseste und gerechteste König, unser Gott, mehr auf den Willen als auf die Thaten seiner Streiter.

Gerson – Der Geist als Lenker

Denke dir ein Schiff in offener See, wie es bemannt und mit allerlei Geräthschaften versehen dahin fährt. Auf der Spitze des Mastes sitzt der Lenker desselben, also daß er in die Höhe und in die Tiefe, rechts und links, rückwärts und vorwärts blicken kann; daß ihm weder die sich thürmenden Meereswogen, noch die wechselnde Richtung des Segels, noch das Gewirre der Schiffsleute und Ruderer hindern kann, Alles, was er will, zu überschauen. Sein Blick geht über das unruhige Getriebe hinaus ungehindert nach dem unbeweglichen Himmelspole. Siehe nun, also soll auch der Geist in dem Fahrzeuge des Körpers die Herrschaft führen. Er soll hinaufsteigen auf die Warte des Gewissens, und von da immerdar nach der unbeweglichen Himmelsaue, nach Gott, schauen. Dann mögen die Leidenschaften sich regen und reiben, er wird allezeit über ihnen erhaben bleiben und die rechte Richtung zu behalten wissen.

Gerson – Nachfolge

Viele ermatten im Ringen nach dem Reiche Gottes, und gehen damit der Seligkeit des ewigen Lebens verlustig. So steigt Einer wohl einen Berg hinan, hinter dem sich herrliche Auen ausbreiten, und kehrt in der Mitte des Weges aus Trägheit wie. der um. So läßt Einer, der grünes Holz in Brand stecken soll, da es ihm sofort nicht gelingen will, Rauch und Reis in Stich, nachdem er in seiner Ungeduld Alles auseinandergestreut. So wirft der Affe die Nuß von sich, deren Schaale ihm bitter schmeckt, ohne bis zur Süßigkeit des Kernes einzudringen. So ergreift der Soldat, dem die Belagerung der Stadt zu lange währt, die Flucht und nimmt sich alle Hoffnung auf Lohn und Beute.

Gerson – Schrei nach Gott

Weinet, meine Augen, über den bittern Abschied, den mein himmlischer Vater von mir genommen hat. Sein Zorn liegt schwer auf mir, seine Gnade ist gewichen, Schmerz, Furcht und Bedrängniß haben sich um mich gelagert. Ich sitze in Finsterniß und sehe das Licht des Himmels nicht mehr; hart ist mein Herz und voll von Unmuth. Trocken bin ich, denn keine geistliche Speise will mir schmecken: nicht Lesen, nicht Singen, nicht Beten. Mir selber eine Last und Beschwerde, bin ich zur Arbeit trag, und die Einsamkeit ist mir peinlich. Ich esse, trinke und spreche, um nur die Zeit zu verbringen. Ach welch trauriger Wechsel! wo bin ich hingerathen? Vom Himmel in die Hölle, vom Leben des Geistes ins Leben des Fleisches, von der Wahrheit in die Eitelkeit. O Gott, mein Vater, höre mein Geschrei, siehe an meine Noth! Komm wieder, o Herr, komm wieder mit Deiner Gnade!

Gerson – Die Seele im Hohenlied

Die heilige Seele im Hohenliede, da sie die schweren Bürden irdischer Liebe fühlt und sich ihrem Freunde zu nahen wünscht, bricht in die Worte aus: Ziehe mich Dir nach; wir wollen zu dem Duft Deiner Salben eilen! So läßt der allmächtige Gott seinen Kindern eine gewisse Süßigkeit, einen Wohlgeruch, einen innern Geschmack, eine heilige Freude, eine Klarheit, einen Frieden, eine Herzensweite empfinden und einen verborgenen Klang vernehmen. Kurz, es giebt ein Ziehen und Wirken Gottes im Herzen, das mit Worten nicht ausgeredet werden kann. In solchen Augenblicken macht sich die fromme Seele los von den Banden der Weltliebe, und nichts Irdisches kann sie mehr zurückhalten: kein Reichthum, keine Fleischeslust, keine sinnliche Genußsucht, kein Spiel, kein Scherz. Weltmenschen, die von falscher Liebe geblendet sind, wundern sich stark darüber, verlachen und verspotten eine solche Seele, darum, weil sie keine Ahnung von dem haben, was in ihr vorgeht. So geschieht es wohl, daß unter einer großen Zahl von Hunden, die in ein Gehege eingeschlossen sind, die vier Jagdhunde, welche sich bei ihnen befinden, sofort unruhig werden, wenn Hirsche in die Nähe kommen; daß sie keine Mauer, kein Gesträuch, keinen Bach, keinen Felsen scheuen, um ihnen nachzusetzen, während die übrigen bei einem tödten Leichname stehen bleiben, um ihn zu verzehren, oder wenn sie ja durch die Flucht jener in Bewegung gesetzt werden, wohl einige Schritte mit fortlausen, da sie aber des seinen Geruches entbehren, bald wiederum zu ihrem Aase zurückkehren.

Gerson – Wahrer Reichtum

Jegliche Lust an Niedern Dingen hat mehr Aloe als Honig in sich, spricht der Dichter; wer ihr nachstrebt, leckt Zucker an Dornen und Nesseln. Will Einer Macht, Ehre, Reichthum und Ansehn genießen, so suche er Gott. Solches Alles ist Er der lieben- den Seele, von dem der Apostel rühmt: Ich vermag Alles durch ihn, der mich mächtig macht. Gott ist das Ziel der Seele und ihre höchste Bollendung, er ist der Mittelpunkt aller ihrer Wünsche. Wer seine Freundlichkeit geschmeckt, seine Wahrheit erkannt, seine Herrlichkeit erblickt hat, der spricht erstens: Meine Seele will sich nicht trösten lassen durch eitle Dinge, an Gott gedenke ich und freue mich! Zweitens: Ich meine nichts zu wissen, als Jesum Christum den Gekreuzigten! Drittens: Wer sich rühmen will, der rühme sich mit mir des Herrn! Etwas Höheres hat er nicht zu begehren oder zu wünschen; seine Seele ruhet darin, besitzt in dem Einen Alles mit Sicherheit und achtet das Andere für niedrig und gering.

Gerson – Ruf zur Umkehr

Erwache, erwache, du unglückliche Kreatur, und höre gespannt auf die Donnerschläge der göttlichen Fluchworte, siehe mit offnen Augen in die Schrecken jenes Gerichtes hinein. Ach du liegst in gar zu tiefem Schlafe, du bist gar zu verstockt, gar zu blind, wenn du nicht erschrickst und erzitterst, mehr denn das Blatt, das vom Winde getrieben wird, wenn du nicht eilig dich aufmachst, um dich zu retten. Nicht von Fabeln und Mährchen ist hier die Rede; der Herr hat gedroht, in dessen Munde kein Betrug erfunden worden. So fliehe nun die Lust dieser Welt, fliehe ihre unbeständige Freundschaft und mache dir Freunde im Himmel

Gerson – Die Seele im Elend

Siehe, o Seele, wie demüthig und niedergebeugt arme Bettler vor den Thoren der Leute stehen, um sich leibliche Speise zu erbitten; siehe, wie Gefangene zittern, wenn sie vor Gericht ihren Urteilsspruch erwarten; siehe, wie Kranke auf ihrem Schmerzenslager seufzen! Merke überhaupt auf alles Elend und Unglück in dieser Welt; stelle dir den Tod von Verwandten, die Noth bei Feuersbrünsten, Überschwemmungen und Kriegen vor. O wie trachtet und strebt da Alles nach Leben und Hülfe! Und du bist in noch viel schlimmerem Elend; du hast Gott deinen Vater, du hast dein himmlisches Vaterland verloren. Ach daß du dich doch recht ans deinem Elend heraussehnen, daß du recht innig nach Freiheit und Rettung verlangen möchtest!