August Tholuck – Wahrheit

Geliebte, laßt uns alle ohne Unterschied aufs neue mit uns zu Rate gehen, von welcher Art unser Wahrheitsdurst sei! Haben wir es auch recht bedacht, daß das Wesen einer Religion ebenso gewiß nur dadurch verstanden werden kann, daß sie erlebt wird, als die Kraft einer Arznei nur kennt, wer sie einnimmt? So verlangt denn auch unsere Religion zuallernächst eine Prüfung durch die Tat, durch das Leben selbst. Glaubt jemand, daß er nur mehr Wissen bedarf und nicht Heilung, nun, der braucht freilich den nicht, der als ein Heiland in die Welt gekommen, und der überall sich dafür ankündigt, daß er für die Kranken gekommen sei. Vielleicht haben wir alle zuviel Zeit damit verloren, die Arznei von außen zu besehen oder auch zu zergliedern, statt sie einzunehmen. Die ihr nicht von Herzen glauben könnt, ihr habt vielleicht alle den Grund dafür an einer Stelle gesucht, wo er nicht wirklich liegt. Wie, wenn er bei euch allen darin läge, daß die Wahrheit eures Kopfes bei euch zu wenig die Sache eures Lebens ist? Wenn das auch der Grund wäre, warum euch das Geheimnis von Christi Worten noch nicht aufgegangen ist? „So jemand will den Willen des tun, der mich gesandt hat“, o daß das Wort euch vor die Seele trete, daß es euch beschäme, daß es euch zur Selbsterkenntnis führe, sooft ihr darüber zu klagen beginnt, den Weg zum Glaubenslande nicht finden zu können!

August Tholuck – Aus einer Adventspredigt

Wie unschuldig auch viele Zerstreuungen des Lebens an sich sein mögen — üben sie die Gewalt über uns, daß sie den Samen des göttlichen Wortes und die heiligen Entschlüsse und Grundsätze, die daran sich anschließen und darauf sich gründen, aus dem Herzen reißen, dann sind sie nicht mehr unschuldige Vögelein, dann werden sie zu räuberischen Höllengeistern, die es auf den Tod der Seele abgesehen haben. Nur zu heiter und unbesorgt blickt ihr wohl größtenteils auf eure geselligen Zerstreuungen und Vergnügungen, und wo sie nur an dem äußeren Menschen hinspielen und sich nicht unterstehen, den heiligen Samen im Herzen anzutasten, so laßt sie spielen! Aber wie viele mögen unter uns sein, die stets heiter und vergnügt auf die bunten Vögelein hinschauen, ohne es sich auch nur einfallen zu lassen, daß dies die Räuber sind, die sie um ihre besten Güter betrügen, welche den Feind ihrer Seele ganz woanders suchen, als wo er eigentlich zu suchen ist!

August Tholuck – Nachfolge

Der Apostel ruft euch zu: „Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark!“ und hat euch damit alles gesagt, was ihr bedürft, um in der Heiligung zu wachsen. Wachet: Brüder, alles Unheil kommt aus den unbewachten Stunden! Unbewacht aber ist die Stunde, wo der heilige Hüter in euch einschlummert, der Gedanke an Gott und die Ewigkeit. Jeder eurer Genüsse, der vor dem Gedanken an Gott und die Ewigkeit erbleicht, ist Sünde. Und damit nicht jener heilige Hüter einschlummere, o haltet darauf, daß an jedem eurer Tage wenigstens der Teil einer Stunde ausschließlich dem Gedanken an Gott und die Ewigkeit angehöre! O glaubt es mir, Freunde, ich spreche die Erfahrung vieler unter euch aus! Eine solche halbe Stunde des Tages trägt Früchte der Ewigkeit. Wir können in den Zerstreuungen des Lebens der stillen Stunden nicht entbehren. Stehet im Glauben! Steuert dem Zweifel, weil er die stärkste aller Waffen euch entreißen will, das Wort der Wahrheit, wie sie in Christo ist! Nur mit dieser Waffe werdet ihr männlich und stark sein. Ihr werdet die Wahrheit, die ihr geglaubt habt, auch erfahren. Christus wird eine Gestalt in euch gewinnen, und, wenn von allen Seiten her die Anfechtung der Welt auf euch eindringen wird, werdet ihr mit Johannes ausrufen können: „Der, welcher in uns ist, ist stärker, als der in der Welt ist.“

August Tholuck – Aus dem Vorwort zur ersten Auflage der Schrift über die Sünde und den Versöhner.

Ein Kampf der Geister hat auf dem religiösen Gebiet begonnen, wie er vielleicht seit der apostolischen Zeit nicht gewesen. Der Sieg ist noch keineswegs gewiß; daß er auf die Seite derer falle, die rufen: „Hie Schwert des Herrn und Gideon!“, kann nur erbeten werden. Denn zieht auch der krasse Unglaube scheu sein Haupt zurück, desto mutiger tritt im idealistischen Prunkgewande ein feinerer, aber weit tiefer liegender auf, und statt sie zu rechtfertigen, untergräbt er Christi Lehre. Schallt auch Christus wieder und der Lobpreis des historischen Glaubens auf Kanzel und Katheder, ist’s nicht so oft statt des lebendigen der tote Versöhner? Tritt auch hie und da Fürst und Obrigkeit zum Schirm des Christentums auf, ist’s nicht öfter das politische, das man meint, als das evangelische? Nur wenn der Christus siegt, der nicht in vornehmer, sondern in armer Gestalt dahertritt, der lieber dient als sich dienen läßt, der, da er wußte, daß er von Gott kommen war und wieder zu Gott ging, aufstand, Wasser in ein Becken goß und seinen Jüngern die Füße wusch, der nicht Rabbi heißen wollte und nicht seine eigene Ehre suchte, nur dann hat die Gemeinde Gottes den Geist in der Welt überwunden und kann sich freuen.

August Tholuck – Seligkeit außerhalb Christo

Alle Seligkeit außer Christo besteht in zerrissenen Empfindungen und Ahnungen, welche die Tropfen auf den glühenden Lippen sind, nach denen der Durst nur heftiger wird — blendendes Wetterleuchten in der weiten Nacht, danach die Finsternis nur desto finstrer ist. Wer seine Seligkeit noch nicht anders messen kann als nach flüchtigen Gefühlen — gleichsam über dem Morast des Lebens flackernden Irrlichtern —, oder nach einzelnen aus großen Vergehungen entkeimenden Vorsätzen und Entschlüssen — gleichsam den Wahrzeichen untergegangener Fahrzeuge und Herzen —, der ist noch nicht auf den Fels gegründet, welches ist das Wort von der Versöhnung, das allem Wandel im Menschen ein Ende macht und ihn in der Zeit die Ewigkeit erleben läßt.

August Tholuck – Aus einem Brief an Stier

Mein Inneres ist jetzt stiller als je, ich fühle mich immer weniger von äußeren Dingen abhängend, allein geborgen in meinem Herzen . . . Ich darf — nur seine Gnade bete ich dabei an — sagen: Wo Jesus Christus ist der Herr, wird’s alle Tage herrlicher. Durch diesen Glauben schwinge ich mich über alle Versuchungen hinaus, über allen Trübsinn. Ich habe freilich solche manchmal noch sehr stark, ach, an manchen Tagen treibt mich der Gedanke an den Selbstmord wie ein Gespenst, selbst weckt er mich des Nachts aus dem Schlafe. Aber ich betrachte jetzt diese Gedanken als etwas außer mir Liegendes und nicht zu meinem Ich Gehöriges. Dadurch erhalte ich, daß ich dabei nicht zaghaft werde, sondern sagen kann: Du Teufel erhältst doch nicht den Sieg, sondern ich bin ein Eigentum meines Herrn Christus. Meinst du nicht auch, mein Bruder, daß der Böse am besten überwunden wird, wenn wir einmal im Glauben annehmen, er vermöge gar nicht uns zu überwinden? Ebenso mache ich es auch mit dem Trübsinn. Ich sehe ihn als etwas von außen mir Zugeschicktes an, und wenn tausend bange Bilder meine Phantasie umschweben, rufe ich laut aus: In dem allen überwinden wir weit!, und durch diesen Glauben, daß ich durch den Herrn gewiß überwinden werde, kommt immer wieder ein Freudenstrahl in meine Seele, der wirklich den Trübsinn verteilt. Und so bin ich denn freudig gewiß: der das große Werk in mir Armen angefangen, der wird es auch herrlich vollenden.