Otto Funke – Kannst Du vergeben?

Es ist in der Tat ein schweres Ding um das Vergeben. Es ist aber auch ein großes und mächtiges Ding. Es macht einen gewaltigen Eindruck auf die, die es erleben, wenn der Beleidiger um Vergebung bittet.

Meine seligen Eltern waren beide von sehr lebhafter Art und sehr verschiedenen Temperaments. Auch waren sie in vielen Dingen verschiedener Meinung, so daß es oft heftige Kollisionen gab. Leider auch zuweilen in Gegenwart der Kinder; denn die beiden waren zu lebhaft, um zu warten, bis wir Kinder verschwunden waren.

So geschah es einmal an einem Sonntagmittag bei Tisch, daß mein Vater sagte, er wolle mit uns Jungen einen Spaziergang auf einen Bauernhof machen, wo er als Arzt zu tun habe. Wir waren sehr glücklich über diese seltene Freude; denn Vater benutzte gewöhnlich sein Pferd.

Meine Mutter aber protestierte heftig und forderte, daß wir erst bei Großvater in die öffentliche Kinderlehre gingen, die zwischen drei und vier Uhr stattfand. Vater lachte ein wenig spöttisch und sagte zu unserer Mutter: „Du willst aus den Jungens Pfaffenknechte machen statt tapfere Männer. An diesem Tage, wo unser Herrgott so schönes Wetter gegeben hat, sollen sie ihren Vater und den Himmel genießen, statt sich an den veralteten Dogmen ihres Großvaters zu langweilen.“ Und nun fing er an und machte sich lustig über allerlei Wunderlichkeiten des alten Herrn, die allerdings in seinen sehr hohen Jahren manchen Anstoß boten.

Mutter schnitt ihm mit tieftraurigem Antlitz das Wort ab. „Karl“, sagte sie, „wie kannst du so unrecht tun? Denkst du nicht daran, daß Großvater mein lieber Vater ist, von dem du so redest? Und hast du nicht so oft gesagt, daß er im Grunde der edelste und frömmste Mann von der Welt sei? Und nun die Kinder! – 0 Karl, Karl!“

Jetzt sah ich, wie unser Vater erzitterte und erblaßte. „Liebste Frau“, sagte er und wollte sie umarmen, „ich habe unrecht getan gegen Gott und gegen dich und gegen die Kinder! Ich bitte dich, verzeihe mir!“ Er eilte auf die Mutter zu, und als sie zurückwich, sagte er flehentlich: „Verzeihe mir um des Blutes Christi willen!“

Bald weinten beide, indem sie sich in den Armen lagen.-Diese Szene machte auf uns und jedenfalls auf mich einen erschütternden Eindruck. Daß unser starker, stolzer Vater auch weinen konnte, und noch mehr, daß er sich so beugen konnte, daß er so von Jesus sprach, dessen Name damals noch sehr selten über seine Lippen kam, das wirkte tiefer auf mich als alle Predigten, die wir in der Kirche hörten und die wir doch meist nicht verstanden.

Beide Eltern gingen an jenem Tage mit in die „berüchtigte“ Kinderlehre, und die Mutter ging auch mit auf den Bauernhof, was eigentlich nicht im Programm lag. Und unterwegs zeigte gerade der Vater uns, wie der Großpapa allerlei Beherzigenswertes gesagt habe. Die Bauersleute aber, die wir besuchten, entdeckten, daß wir Knaben sehr nett und ordentlich seien, was man durchaus nicht immer fand.

Auf uns Brüder hatte diese Szene zwischen den Eltern einen so tiefen Eindruck gemacht, daß lange keine bleibende Verstimmung unter uns aufkommen konnte. Das Wort Vergeben war uns tief eingeprägt.

Matthias Claudius – Nicht-glauben

Wer nicht an Christus glauben will, der muß sehen, wie er ohne ihn raten kann. Ich und du können das nicht. Wir brauchen jemand, der uns hebe und halte, weil wir leben, und uns die Hand unter den Kopf lege, wenn wir sterben sollen; und das kann er überschwänglich, nach dem, was von ihm geschrieben steht, und wir wissen keinen, von dem wir’s lieber hätten. Keiner hat je so geliebt, und so etwas in sich Gutes und Großes, als die Bibel von ihm saget und setzet, ist nie in eines Menschen Herz gekommen… Es ist eine heilige Gestalt, die dem armen Pilger wie ein Stern in der Nacht aufgehet, und sein innerstes Bedürfnis, sein geheimstes Ahnden und Wünschen erfüllt. Wir wollen an ihn glauben, Andres, und wenn auch niemand mehr an ihn glaubte. Wer nicht um der andern willen an ihn geglaubt hat, wie kann der um der andern willen auch aufhören, an ihn zu glauben.