Anselm von Canterbury – Die Hölle

Denke dir, du sähest ein tiefes, dunkles Thal, das allen Jammer in sich faßte. Darüber führte eine lange, blos einen Fuß breite Brücke. Müßte nun jemand über diese schmale, hohe und gefährliche Brücke gehen, dem die Augen verschlossen, daß er seine Tritte nicht zu sehen vermöchte, dem die Hände gebunden wären, daß er keinen Stab zum Fühlen gebrauchen könnte, würde der wohl noch lachen und scherzen? Würde der nicht vielmehr vor Furcht und Schrecken erzittern und erbeben? Denke dir, daß noch Ungestalten von Raubvögeln um die Brücke herumschwärmten, geschäftig, den Wanderer in die Tiefe hinabzureißen; denke dir endlich, daß bei jedem seiner Schritte die einzelnen Bretter sofort hinter ihm weggezogen würden! Und nun höre, was das Gleichniß sagen will. Unter dem tiefen und dunkeln Thal ist die Hölle zu verstehen. Alles, was schmeichelt, findet man nicht da, und alles, was schreckt, peinigt, ängstet, findet man da. Die gefahrvolle Brücke ist das gegenwärtige Leben; wer es übel benutzt, sinkt zur Hölle hinab. Die Bretter, welche hinter dem Wanderer weggezogen werden, sind die nie wiederkehrenden Tage seines Lebens, deren beständige Abnahme ihn immer mit Eile zum Ende hindrängt. Der Vogelschwarm ist die Schaar böser Geister. Wir selbst sind die Wanderer, blind von Thorheit und mit Untüchtigkeit zur Tugend wie mit einer schweren Kette gebunden. Nun bedenke, ob wir nicht in solcher Gefahr zum Schöpfer um Hilfe schreien müssen.

Anselm von Canterbury – Sehnsucht nach Gottes Herrlichkeit

Giebt es etwas Schöneres, als im Dunkel und unter den Bitterkeiten dieses Lebens nach der ewigen Wonne und Seligkeit sich sehnen; dort sein Herz hinrichten, wo am sichersten wahre Lust zu finden ist? Wann werde ich doch eingehen in das wunderbare und herrliche Haus, wo Freude und Jubelklange ertönen in den Hütten der Gerechten? Selig sind, die in Deinem Hause wohnen, o Herr; in Ewigkeit werden sie Dich loben. Siehe, die Heiligen blühen vor Dir wie Lilien. Erfüllt werden sie von dem Ueberflusse Deines Hauses und mit dem Strome Deiner Lust tränkest Du sie, denn Du bist des Lebens Quell, und in Deinem Lichte nur sieht man das Licht. Eins habe ich von Dir erbeten, zu wohnen in Deinem Hause alle Tage meines Lebens. Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine Seele, Gott, zu Dir. Wann werde ich kommen, vor Deinem Angesichte zu erscheinen? Wann werde ich meinen Gott sehen, nach dem meine Seele dürstet? Wann werde ich ihn sehen im Lande der Lebendigen? Denn in diesem Lande des Todes und mit diesen sterblichen Augen kann er nicht geschauet werden. So lange wir im Leibe sind, sind wir Fremdlinge des Herrn; wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die Zukünftige suchen wir.

Anselm von Canterbury – Ewigkeit

Erhebe dich jetzt, meine Seele, und bedenke es, wie herrlich und wie groß jenes ewige Gut ist. Denn sind schon einzelne Güter so ergötzlich, wie ergötzlich muß jenes sein, das aller Güter Wonne in sich faßt, und ist das geschaffene Leben schön, wie schön muß das schaffende sein? Das kein Auge gesehen hat, und kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, hat Gott bereitet denen, die ihn lieben. Und warum zerstreuest du dich nun noch nach allen Seiten hin, um Güter des Leibes und der Seele zu suchen? Liebe das Eine Gut, in dem alle Güter beschlossen sind. Was willst du denn, mein Fleisch, was begehrst du, meine Seele? Dort ist ja, was du willst, dort ist ja, was du begehrst. Siehst du auf Schönheit? Die Gerechten werden leuchten, wie die Sonne, auf Schnelligkeit und Freiheit? Sie sind wie die Engel Gottes. Wünschest du dir ein langes und gesundes Leben? Dort ist eine gesunde Ewigkeit und eine ewige Gesundheit; denn die Gerechten werden ewiglich leben und der Herr ist ihr Heil. Willst du Sättigung? Sie werden satt werden, wenn sie erwachen nach seinem Bilde. Verlangst du nach Rausch? Sie werden trunken von den reichen Gütern des Hauses Gottes. Hörst du Gesänge gern? Dort singen die Engel dem Herrn ein neues Lied. Willst du ein reines Vergnügen? Mit Wollust tränket sie der Herr als mit einem Strome. Erfreuet dich Ehre und Reichthum? Gott wird seine frommen und getreuen Knechte über viel setzen, sie werden Kinder Gottes und Miterben Christi sein. Ja dort ist Alles, was du Hohes und Schönes denken magst: Weisheit, Freundschaft, Eintracht, Macht und Sicherheit. Du menschliches, bedürftiges Herz, Herz voller Sorgen und Kümmernisse, wie würdest du dich freuen, wenn du an allen diesen Dingen Ueberfluß hättest! Frage dein Innerstes, ob es die Freude über ein so großes Glück fassen kann. Aber wenn nun ein Anderer, den du wie dich selber liebst, dieselbe Seligkeit genießt, so muß sich deine Freude verdoppeln; und wenn nun zwei, drei oder Viele dieselbe empfinden, so mußt du die Freude aller dieser mitfühlen. Wie mag es nun sein in jener vollkommenen Liebe unzählbarer Engel und Menschen, wo Keiner den Anderen weniger liebt, als sich selber!

Anselm von Canterbury – Gericht

Wer vermag es, die Schrecken des Weltgerichts zu beschreiben, wo die Schaafe zur Rechten, die Böcke zur Linken stehen sollen! Welches Zittern wird herrschen, wann die Kräfte des Himmels sich bewegen werden? Welche Verwirrung wird entstehen, welche Seufzer, welches Heulen und Jammern wird man hören, wenn jenes furchtbare Wort erschallt: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer! Wahrlich ein Tag des Zornes wird jener Tag sein, ein Tag der Trübsal und Angst, ein nebliger und stürmischer Tag, ein Tag der Posaune und des Feldgeschrei’s. Da wird die Stolzen das ewige Feuer ergreifen, das niemals verlischt, der Wurm wird an ihnen nagen, der nimmer stirbt und der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Alle Seligen hingegen werden sich freuen und frohlocken, die hier betrübten und zerschlagenen Herzens waren, wann sie zur Rechten gestellt jenes köstliche Wort vernehmen: Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Jubelstimmen werden dann in den Zelten der Gerechten ertönen und himmlische Kronen die Häupter der Treuen schmücken.

Anselm von Canterbury – Gebet

Wohlan, o Mensch, laß jetzt ein wenig deine Arbeit, birg dich eine Weile vor deinen stürmischen Gedanken, vergiß deines schweren und lästigen Streites, gieb dich Gott eine Zeit lang hin und ruhe aus in ihm. Laß Alles von dir, was nicht Gott ist oder dir ihn nicht finden hilft, gehe hinein in deines Herzens Kämmerlein, und schließ die Thür hinter dir zu. Sprich dann aus ganzem Herzen: Ich suche Dein Antlitz, o Herr. Lehre du mich, wo und wie ich dich suchen, wo und wie ich dich finden kann!

Anselm von Canterbury – Streben nach Würde

Die nach hohen Würden in dieser Welt streben, gleichen Knaben, welche Schmetterlinge verfolgen. Die Schmetterlinge halten bei ihrem Fluge keinen geraden Weg, flattern bald da, bald dorthin, und, scheinen sie auch einmal still sitzen zu wollen, so ist es nur von kurzer Dauer. Manche Knaben denken, es sei genug, wenn sie ihnen nur wacker nachlaufen und, da sie bloß ihr Ziel, nicht aber ihre Füße im Auge behalten, stürzen sie zuweilen in eine Grube und verletzten sich stark. Die meisten indeß schleichen sich sacht hinzu, aber wenn sie nahe daran sind, können sie ihre Freude nicht mehr bergen, klatschen in die Hände und verscheuchen die Schmetterlinge. Erreichen sie diese aber ja einmal, so jubeln sie über ein Nichts, und meinen noch Wunder wie Großes zu haben. Ihnen gleichen also die, welche nach weltlichen Aemtern streben. Diese halten keine stetige Bahn, gehen plötzlich von dem Einen zum Andern über. Thoren laufen ihnen mit Hast nach und fallen oftmals, da sie unter jeder Bedingung in ihrem Besitz zu sein wünschen, in schwere Sünden, durch die ihre Seelen tief verletzt werden. Andere hingegen, wenn sie bemerken, wie sie ihnen irgendwo offen stehen, gehen in der Stille und mit List hinzu. Sind sie bald daran, so frohlocken sie schon und meinen ihrer Sache gewiß zu sein; aber unversehens entschlüpfen sie ihnen. Sind sie aber ja glücklich, so jubeln sie, als hätten sie wahre Ehre er. langt, da sie doch nur Eitles gewonnen haben.

Anselm von Canterbury – Vereinigung mit Christus

Bedenke es, wie innig sich Christus mit dir vereinigt hat. Daß wir Christi Leib sind, sagt der Apostel, und Glieder von seinen Gliedern. Bewahre also dem Leibe und den Gliedern die Würde, welche sich ziemt; denn so großer Lohn deiner wartet, wenn du sie recht brauchst, so große Strafe mußt du leiden, wenn du sie mißbrauchst. Deine Augen sind Christi Augen. Nicht steht es dir frei, deine Augen auf eitle Gegenstände hinzurichten, weil Er die Wahrheit ist und ein Feind aller Eitelkeit. Dein Mund ist Christi Mund. Nicht darfst du ihn, ich will garnicht sagen zu Verläumdungen, zu Lügen, nein auch nicht einmal zu leerem Geschwätz öffnen, da er zum Lobe Gottes und zur Erbauung des Nächsten bestimmt ist. Dasselbe gilt von allen andern Gliedern.

Anselm von Canterbury – Der Mühlstein

Es giebt einen Mühlstein, der immerdar umläuft. Der Herr hat ihn seinem Knechte mit dem Befehl übergeben, daß er nur gutes Getreide, Weizen, Gerste oder Hafer darauf mahlen möge. Diesen Knechte nun stellt ein Feind nach, der, so oft er den Stein leer findet, entweder Sand darauf wirft, der ihn zerfrißt, oder Pech, das ihn verklebt, oder Spreu, die ihn umsonst beschäftigt. Höre nun, was das Gleichniß sagen will. Der Mühlstein ist das menschliche Herz, welches beständig von Gedanken getrieben wird. Nur Gutes zu denken, hat Gott einem Jeden geboten. Die tiefen und ruhigen Gedanken über Gott gleichen dem Weizen, die Erhebungen der Seele zur Andacht der Gerste, die Entschlüsse zur Tugend dem Hafer. Solches Alles soll der Mensch denken, um sich ewige Speise zu bereiten. Aber der Teufel stellt ihm immerdar nach, und findet er das Herz leer von guten Gedanken, so erfüllt er es sogleich mit bösen. Einige davon verzehren es, wie Zorn und Neid, andere verschließen es, wie Wollust und Ueppigkeit, andere beschäftigen es umsonst, wie eitle Ruhmbegier.

Anselm von Canterbury – Gericht

Unfruchtbare Seele, was machst du, was bist du so träg, sündige Seele? Der Tag des Gerichtes kommt nahe herbei, der große Tag des Herrn, der Tag des Zorns, der Tag der Trübsal und Angst, der Tag der Noth und des Jammers, der Tag der Finsterniß und des Dunkels, der Tag des Nebels und des Sturmes, der Tag der Posaune und des Feldgeschrei’s. Was schläfst du nun, o Seele, warum bist du so lau und werth, ausgespieen zu werden? Was schläfst du? Wer nicht aufwacht, wer nicht aufschrickt bei so gewaltigen Donnerschlägen, der schläft nicht, der ist gestorben. Du unfruchtbarer Baum, wo sind deine Früchte? O Baum des Beiles und Feuers werth, was sind deine Früchte? Nichts als stechende Dornen und bittere Sünden. Ach daß sie dich doch heilsam stechen und zur Reue dir bitter werden möchten!

Anselm von Canterbury – Eigenwille

Der Eigenwille gleicht einem giftigen und tödtlichen Kraute, dessen Genuß der erfahrenste Arzt schon den ersten Menschen im Paradies verbot. Doch wollten sie seiner Vorschrift nicht gehorchen. Und da sie gegessen, wurden sie aussätzig und zeugten aussätzige Kinder. Obwohl diese nun wissen, daß ihre Eltern durch jenes Kraut krank wurden und starben, so lieben sie es doch vor allen und würzen alle ihre Speisen damit.