Anselm von Canterbury – Die Hölle

Denke dir, du sähest ein tiefes, dunkles Thal, das allen Jammer in sich faßte. Darüber führte eine lange, blos einen Fuß breite Brücke. Müßte nun jemand über diese schmale, hohe und gefährliche Brücke gehen, dem die Augen verschlossen, daß er seine Tritte nicht zu sehen vermöchte, dem die Hände gebunden wären, daß er keinen Stab zum Fühlen gebrauchen könnte, würde der wohl noch lachen und scherzen? Würde der nicht vielmehr vor Furcht und Schrecken erzittern und erbeben? Denke dir, daß noch Ungestalten von Raubvögeln um die Brücke herumschwärmten, geschäftig, den Wanderer in die Tiefe hinabzureißen; denke dir endlich, daß bei jedem seiner Schritte die einzelnen Bretter sofort hinter ihm weggezogen würden! Und nun höre, was das Gleichniß sagen will. Unter dem tiefen und dunkeln Thal ist die Hölle zu verstehen. Alles, was schmeichelt, findet man nicht da, und alles, was schreckt, peinigt, ängstet, findet man da. Die gefahrvolle Brücke ist das gegenwärtige Leben; wer es übel benutzt, sinkt zur Hölle hinab. Die Bretter, welche hinter dem Wanderer weggezogen werden, sind die nie wiederkehrenden Tage seines Lebens, deren beständige Abnahme ihn immer mit Eile zum Ende hindrängt. Der Vogelschwarm ist die Schaar böser Geister. Wir selbst sind die Wanderer, blind von Thorheit und mit Untüchtigkeit zur Tugend wie mit einer schweren Kette gebunden. Nun bedenke, ob wir nicht in solcher Gefahr zum Schöpfer um Hilfe schreien müssen.