Bernhard von Clairvaux – Jesus geht vorbei

Einst stellte sich der Herr, als wollte er weiter gehen, um den Jüngern die Bitte zu entlocken: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden! In ganz ähnlicher Weise verfährt er noch jetzt mit der frommen Seele. Er geht vorüber, um gehalten, er entfernt sich, um zurückgerufen zu werden, Denn das ewige Wort ist kein unwiederbringliches; es geht und kommt wieder nach Wohlgefallen; es scheidet nach seiner Weisheit, es kehrt zurück nach seiner Liebe. Seine Einkehr ist geheimnißvoll und wunderbar. Man fühlt, daß es da ist, man erinnert sich, daß es dagewesen, man kann seine Ankunft zuweilen vorausempfinden, aber den Punkt, wann es ein- oder austritt, niemals bestimmen.
Wer mag auch sagen, wie es in die Seele kommt. Ich fragte die Sinne, aber sie wußten nichts von dem, das nicht in die Sinne fällt, ich fragte mein Inneres, aber es antwortete: Wie kann das Gute aus mir entspringen, da in mir nichts Gutes wohnet? Ich stieg, so hoch ich konnte, aber das Wort blieb höher, als ich; ich senkte mich, so tief ich es vermochte, aber das Wort blieb allezeit unter mir. Da habe ich die Wahrheit des Ausspruchs erkannt: In ihm leben, weben und sind wir! Sind aber seine Wege so unerforschlich, mag Jemand einwenden, woher weißt du, daß es da ist? An seinen Werken, spreche ich. Denn lebendig und wirksam ist es; es bewegt und erweckt die schlummernde Seele, es verwundet und erweicht das harte Herz. Das Alte wird ausgerottet und niedergerissen, Neues gepflanzt und aufgebaut. Ueber das Dürre strömen Wasserquellen, in die Finsterniß scheint Licht hinein, das Verschlossene öffnet, das Kalte erwärmt sich. Das Krumme wird gerad, das Rauhe eben gemacht; fleischliche Lüste gehen, gute Empfindungen kommen. Da lobt die Seele den Herrn und Alles, was in ihr ist, seinen heiligen Namen.