Gerson – Die Seele im Elend

Siehe, o Seele, wie demüthig und niedergebeugt arme Bettler vor den Thoren der Leute stehen, um sich leibliche Speise zu erbitten; siehe, wie Gefangene zittern, wenn sie vor Gericht ihren Urteilsspruch erwarten; siehe, wie Kranke auf ihrem Schmerzenslager seufzen! Merke überhaupt auf alles Elend und Unglück in dieser Welt; stelle dir den Tod von Verwandten, die Noth bei Feuersbrünsten, Überschwemmungen und Kriegen vor. O wie trachtet und strebt da Alles nach Leben und Hülfe! Und du bist in noch viel schlimmerem Elend; du hast Gott deinen Vater, du hast dein himmlisches Vaterland verloren. Ach daß du dich doch recht ans deinem Elend heraussehnen, daß du recht innig nach Freiheit und Rettung verlangen möchtest!

Gerson – Parusie

Jubele, o Volk Christi, dein Herr hat versprochen, zu dir zu kommen und Wohnung bei dir zu machen. Giebt es eine edlere Würde, ein höheres Glück, eine größere Seligkeit? Siehe, meine Seele, du sollst Christum empfangen, der heute im heiligen Geiste zu dir naht und an deines Herzens Thür klopft. O so schicke dich nun, ihn würdig aufzunehmen; reinige deines Herzens Kammer von allen Sünden, begieb dich weltlicher Sorgen, entschlage dich irdischer Gedanken. Und indem du Solches thust, sprich mit der Kirche in voller Sehnsucht: Komm, o Seelenfreund und Tröster! Dann wird er nicht säumen, bald zu erscheinen, und Trost, Freude und Hoffnung werden mit ihm sein.

Gerson – Sündenfall

O der unglückseligen Stunde, da Adam das Gebot des Herrn übertrat! Nun ist uns unser herrliches Erbe genommen, nun sind wir aus Lust und Freude in den Ort der Thränen, der Trübsal und Leiden gerathen. Nackt und blos stehn wir da in fremdem Lande, verlassen und fern vom Vaterhause. Der Reichthum ist in Armuth, die Freiheit in Knechtschaft, die Sicherheit in Gefahr, das Leben in Tod verwandelt. Kurz, aus der Höhe des Glückes sind wir in die Tiefe alles Jammers gefallen.

Gerhardt, Paul – Über den Calvinismus

Ein Christ ist entweder, der auf Jesum getauft ist und Jesum von Nazareth für den Messias und Heiland der Welt bekennt; also können vielleicht nicht allein Calvinisten, sondern auch Papisten Christen genannt werden. Oder ein Christ ist derjenige, welcher den wahren, seligmachenden Glauben rein und unverfälscht hat, auch die Früchte desselben in seinem Leben und Wandel sehen läßt: also kann ich die Calvinisten quatales nicht für Christen halten. Sein Bekenntnis, in welchem man als von Jugend auf vor Gott und vor der Welt mit gutem Gewissen gewandelt hat, von welchem uns auch der Geist Gottes in unsern Herzen Zeugnis gibt, daß es recht und ganz heilig und christlich sei, solch Bekenntnis dahingeben und von sich sagen sollen und zwar unter dem Namen eines Schmäh-, Schänd- und Lästerbuches, das ist doch ja ein hartes, großes und schweres Werk.

Gellert, Christian Fürchtegott – Von guter und schlechter Lektüre

Ich halte das Lesen der alten römischen und griechischen Schriftsteller für nothwendig zum Geschmack und zur wahren Gelehrsamkeit; aber das Lesen der alten Philosophen kommt mir gefährlich vor, weil es eher stolz als weise und gut machen kann. Ihre Sittensprüche sind vortrefflich und bereden das Herz, daß es auch von selbst vortrefflich werden könne. Der Verstand freut sich über die Tugend, die sich der Mensch selbst geben kann; aber das Gewissen widerlegt sehr bald das stolze System, wenn das Herz versucht, durch eigene Kraft fromm zu werden. Warum unterlassen so viele junge Leute das Gebet, gutgesinnte junge Leute, wenn sie nicht heimlich glauben, daß sie sich selbst zur Tugend genug sind? Es ist eine elende Scham, wenn man sich höherer Hülfe schämt. Sie wollen dem Geiste Gottes, der unser Herz ändern und heiligen muß, diese Ehre nicht lassen, um sie selbst zu verdienen, richten das Reich einer eiteln Selbstzufriedenheit in sich auf, glauben sich beherrschen zu können, fallen in Sicherheit, und daraus in Laster, die der Jugend so gefährlich sind.

Geiler von Kaysersberg – Selig bist du

Selig bist du, so du dein Gemüth nimmer an die Dinge dieser Welt heftest. Gedenke, wo du bist! Sprichst du: Wo bin ich denn? Du bist zum Ersten im fremden Lande, da du kein Bleiben hast, sondern immer fort und fort mußt. Du bist zum Andern im Thale der Thränen. Wie die Kinder Israel an den Flüssen Babels saßen, ihre Harfen an den Weiden aufgehangen hatten und weineten, so sitzen die andächtigen Seelen neben den Flüssen der Vergänglichkeit dieser Welt, die an ihnen vorüberrauschen. Sie klagen, wenn sie die Unruhe fühlen, dadurch sie an der Betrachtung Gottes gehindert werden, sie trauern, wenn sie gewahren, wie so Viele jämmerlich in den Gewässern ertrinken, sie weinen, wenn sie an die ferne Heimath des himmlischen Jerusalems gedenken. Wo bist du zum Dritten? In dem Reiche und dem Schatten des Todes. Wenn du den Schatten eines Menschen erblickst, so weißt du, daß du nicht weit mehr von ihm bist. Siehe nun, so nahe ist dir der Tod, daß sein Schatten immerdar auf dich scheint!

Geiler von Kaysersberg – Gebet

Das Gebet wirkt Zweierlei in dir. Erstens zerstreut es den Nebel, der das Haupt der Seele, die Vernunft, umhüllt und verfinstert hat, daß sie nicht aufschauen kann zu Gott dem Herrn; es schärft deinen Verstand und erfrischt dich mit lebendiger Hoffnung. Zweitens stärkt es den Willen zu allen Tugenden, daß du fromm und willig wirst, viel zu leiden, wenn es Gottes Wille ist. Es giebt keine kräftigere Arznei wider allen Mangel und alle Anfechtung, als ein andächtiges und herzliches Gebet.

Geiler von Kaysersberg – Gebet

Wenn dir Himmel und Erde zu eng ist, wenn du nirgends dich ruhig anlehnen und halten kannst, wenn du in dem heißen Ofen der Anfechtung sitzest, so gieß aus zu Gott ein andächtiges, reines, inbrünstiges Gebet aus der Tiefe deines Herzens. Dann wird dir Gnade und Geduld gegeben werden, daß du ausharren magst, dann wird kühler Himmelsthau auf dich herabfallen, der die grimmige Hitze löscht, der Seelen Angst und Betrübniß mildert.

Geiler von Kaysersberg – Nächstenliebe

Nicht um Nutzen oder Gaben, nicht um Gesellschaft oder Vermögen sollst du deinen Nächsten lieben, wie die Juden und Heiden auch thun; sondern in Gott sollst du ihn ansehn, sollst bedenken, daß er von Gott geschaffen und nach ihm gebildet ist, daß er mit dir durch das schmerzliche Leiden und den bittern Tod Christi erlöset ist, und daß er mit dir auch das ewige Leben erlangen und besitzen soll. Liebst du so deinen Nächsten als dein Mitgeschöpf, als deinen Miterlösten und als deinen Miterben, dann erst hast du ihn lieb in christlicher Liebe.

Geiler von Kaysersberg – Wachstum

Gute Menschen gleichen guten Bäumen. Ihre Wurzel ist ein gutes Gewissen, ihr Stamm ein rechtschaffner Wille; sie sprossen Blätter guter Worte, treiben Blüthen heiliger Gedanken und tragen Früchte guter Werke. Sie achten sich selber für Nichts, sondern, voll von Früchten, neigen und biegen und demüthigen sie sich bis in die Erde, ja sie bedürfen, daß man sie unterstütze und tröste, damit sie nicht gar verzagen. Ganz anders hält es sich mit den hoffärtigen Menschen. Wie verfluchte und verdorrte Bäume entbehren sie alles Saftes der Gnade und der Liebe. Sie spreizen sich hoch, sind aber allezeit dürr, und was sie gebären, sind Wurmnester und Spinngewebe.