Kierkegaard, Sören Aabye – Altersstufen des Glaubens

Luthers Lehre vom Glauben bezeichnet recht eigentlich die Wandlung vom Jüngling zum Mannesalter; seine Lehre vom Glauben ist die Religiosität des Mannesalters.

Dem Jüngling scheint das Ideal noch erreichbar, wenn man nur redlich und mit äußerster Kraft strebt; es gibt, wenn ich so sagen darf, ein kindliches, ebenbürtiges Verhältnis zwischen mir und dem Vorbild, wenn ich nur mit äußerster Kraft will. Hierin liegt die Wahrheit des Mittelalters. Man hatte die fromme Zuversicht, es wirklich erreichen zu können, wenn man alles den Armen gäbe, ins Kloster ginge usw.

Die Religiosität des Mannesalters ist eine Stufe höher und gerade deshalb daran erkennbar, daß sie sich vom Ideal um ein Stadium weiter entfernt fühlt.

Allmählich, wie das Individuum sich entwickelt, wird ihm Gott immer mehr unendlich, fühlt es sich immer weiter von Gott entfernt.

So kann die Lehre vom Vorbilde nicht mehr den ersten Platz einnehmen. Jetzt kommt erst der Glaube, Christus als Gabe. Das Ideal wird so unendlich erhaben, daß sich all mein Streben vor meinen eignen Augen in ein unsinniges Nichts verwandelt, wenn es dem Ideal ähnlich sein soll, oder gleichsam in einen frommen Scherz, wenn ich auch redlich strebe.

Das nennt man auch: ich ruhe einzig und allein im Glauben. Der Jüngling merkt nicht, wie ungeheuer die Aufgabe ist, er fängt frischweg an, in der frommen Illusion, daß es ihm schon glücken werde. Der Ältere weiß in seiner tiefsten Tiefe I um den Abstand zwischen sich und dem Ideal – und nun muß sich „der Glaube“ erst zwischen beide dazwischenschieben, als das, worin man eigentlich ruht, der Glaube an die Genugtuung, der Glaube, daß ich allein durch den Glauben erlöst werde.

So hat Luther vollkommen recht, er bezeichnet einen Wendepunkt in der Entwicklung der Religiosität.

Das Mißverständnis in der Religiosität unserer Zeiten besteht darin, daß man jetzt den Glauben dermaßen zu einer Innerlichkeit macht, daß er eigentlich ganz verschwindet, so daß sich das Leben ohne weiteres rein weltlich gestalten darf, und daß man an die Stelle des Glaubens eine Versicherung seines Glaubens setzt.

 

Kierkegaard, Sören Aabye – Schweigen tut not

Betrachtet man — wozu man vom christlichen Standpunkt aus gewiß berechtigt ist — den jetzigen Zustand der Welt und das ganze Leben, so müßte man sagen: es ist eine Krankheit.

Wenn ich Arzt wäre und mich einer fragte: „Was meinst du, muß getan werden?“, so würde ich antworten: „Das erste, was getan werden muß, und die unbedingte Voraussetzung dazu, daß überhaupt etwas getan werden kann, ist: schaffe Schweigen! gebiete Schweigen! Gottes Wort kann ja nicht gehört werden, und wenn es mit Hilfe lärmender Mittel geräuschvoll hinausgerufen wird, damit man es auch im Getöse hören kann, so bleibt es nicht Gottes Wort. Schaffe Schweigen!! Ach, alles lärmt, und wie heißes Getränk das Blut bekanntlich in Wallung bringt, so ist in unserer Zeit jedes einzelne, selbst das unbedeutendste Unternehmen und jede einzelne, selbst die nichtssagendste Mitteilung bloß darauf berechnet, die Sinne zu reizen oder die Masse, die Menge, das Publikum und den Lärm zu erregen! Der Mensch, dieser gewitzigte Kopf, sinnt fast Tag und Nacht darüber nach, wie er zur Verstärkung des Lärms immer neue Mittel erfinden und mit größtmöglicher Hast das Geräusch und das leere Gerede möglichst überallhin verbreiten kann. Ja, was man auf solche Weise erreicht, ist wohl bald das Umgekehrte: die Mitteilung ist an Bedeutungsfülle wohl bald auf den niedrigsten Stand gebracht, und gleichzeitig haben umgekehrt die Mittel der Mitteilung in Richtung auf eilige und alles überflutende Ausbreitung wohl das Höchstmaß erreicht; denn was wird wohl hastiger in Umlauf gebracht als das Geschwätz?! Und anderseits:

Was findet willigere Aufnahme als das Geschwätz?! O, schaffet Schweigen!

Kierkegaard, Sören Aabye – Von der Entschärfung bis zur Abstumpfung ist es nicht weit

„Nimm die Heilige Schrift, schließe die Tür hinter dir zu – nimm dann aber zehn Wörterbücher, fünfundzwanzig Auslegungen: so kannst du die Heilige Schrift ebenso ruhig und ungeniert lesen, wie du den Lokalanzeiger liest. Fällt es dir dann – wunderlicherweise – gerade, wenn du so recht schön dasitzt und eine Stelle liest, zwischendurch ein: „Hab ich dies getan, handle ich hiernach?“ (natürlich nur in Geistesabwesenheit, in einem zerstreuten Augenblick, da du nicht mit dem gewohnten Ernste gesammelt bist, kann dir dergleichen widerfahren), so ist die Gefahr doch nicht eben groß.

Denn sieh, vielleicht sind da mehrere Lesarten, und vielleicht wird gerade jetzt eine neue Handschrift aufgefunden, ei, Gott behüte – da ist Aussicht auf neue Lesarten, und vielleicht sind fünf Ausleger der einen Meinung und sieben einer anderen, und zwei einer merkwürdigen Meinung, und drei schwanken oder haben gar keine Meinung, und „ich selbst bin nicht ganz einig mit mir über den Sinn dieser Stelle, oder, um meine Meinung zu sagen, ich bin der gleichen Meinung wie die drei Schwankenden, die keine Meinung haben“ und so weiter…

Kierkegaard, Sören Aabye – Unbegrenzte Möglichkeiten

Bei Gott ist alles möglich. Dies ist ewig wahr und also wahr in jedem Augenblick. Man sagt es so zum täglichen Gebrauch, aber die Entscheidung ist, wenn der Mensch bis zum Äußersten gebracht ist, so daß menschlich gesprochen keine Möglichkeit mehr ist. Da gilt es, ob er will glauben, daß für Gott alles möglich ist, also: ob er glauben will. Da siehst du, was glauben heißt: das Verstehen aufgeben, um Gott zu gewinnen. Denke dir einen Menschen, der mit dem ganzen Grauen einer erschreckten Einbildungskraft sich ein Schrecknis vorgestellt hat als unbedingt nicht auszuhalten. Nun begegnet es ihm, gerade dieses Schrecknis begegnet ihm. Menschlich gesehen ist sein Untergang das Allergewisseste. Alle Rettung ist das Unmöglichste von allem. Aber für Gott ist alles möglich! Dies ist der Kampf des Glaubens, der kämpft, wenn man so will, widersinnig für Möglichkeit. Denn Möglichkeit ist das eine Rettende. Wenn eins ohnmächtig wird, ruft man nach Wasser, Eau de Cologne, Hoffmannstropfen; aber wenn einer verzweifelt ist, dann heißt es: schaff Möglichkeit, schaff Möglichkeit. Möglichkeit ist das einzig Rettende. Eine Möglichkeit! Dann atmet der Verzweifelnde wieder, er lebt wieder auf; denn ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam nicht Luft bekommen. Und zuletzt, d.h. wenn es sich um das Glauben handelt, hilft nur dies, daß für Gott alles möglich ist.

So wird da gekämpft. Ob der Kämpfende untergehen wird, beruht einzig und allein darauf, ob er Möglichkeit herbeischaffen will, das ist, ob er glauben will. Und doch versteht er, daß menschlich gesprochen sein Untergang das Allergewisseste ist. Dies ist das unterscheidende Element beim Glauben.- Der Gläubige sieht seinen Untergang, aber er glaubt. Deshalb geht er nicht unter. Er stellt es ganz Gott anheim, wie ihm geholfen werden solle, aber er glaubt, daß für Gott alles möglich ist. Dann hilft ihm Gott auch, vielleicht, indem er ihn dem Schrecknis entgehen läßt, vielleicht, indem sich unerwartete, wunderbare göttliche Hilfe zeigt. Wunderbare! Dann ist es doch eine sonderbare Ziererei, das nur vor 1900 Jahren sollte Menschen wunderbar geholfen worden sein. Ob einem Menschen wunderbar geholfen wird, beruht wesentlich stark darauf, mit welcher Leidenschaft des Verstandes er verstanden hat, daß Hilfe menschlich unmöglich war, und dann darauf, wie redlich er gegen die Macht ist, die ihm doch half. Aber gewöhnlich tun die Menschen weder das eine noch das andere, und deshalb erleben sie auch nichts.

Kierkegaard, Sören Aabye – Über Liebe

Was ist denn ein Mensch ohne Liebe? Doch gibt es vielerlei Arten von Liebe; ich liebe einen Vater anders als eine Mutter, meine Ehefrau wiederum anders, und jede verschiedene Liebe hat ihren verschiedenen Ausdruck; es gibt aber auch eine Liebe, mit der ich Gott liebe, und diese hat in der Sprache nur einen Ausdruck, nämlich: Reue. Wenn ich ihn nicht so liebe, so liebe ich ihn nicht absolut, nicht aus meinem innersten Wesen, jede andere Liebe zum Absoluten ist ein Mißverständnis, denn, um etwa das zu nehmen, was man sonst so laut anpreist und was ich selber ehre, wenn der Gedanke mit aller seiner Liebe am Absoluten festhängt, so ist es nicht das Absolute, was ich liebe, ich liebe nicht absolut, denn ich liebe notwendig; sobald ich frei liebe und Gott liebe, bereue ich. Und sollte es keinen anderen Grund dafür geben, daß der Ausdruck für meine Liebe zu Gott Reue ist, so gibt es doch den, daß er mich zuerst geliebt hat. Und doch ist dies eine unvollkommene Bezeichnung, denn nur wenn ich mich selbst als schuldig wähle, wähle ich absolut mich selbst, falls ich überhaupt mich selbst auf eine Weise absolut wählen soll, daß dieses Wählen nicht identisch ist mit einem sich selbst Erschaffen; und wäre es auch des Vaters Schuld, die sich auf den Sohn fortgeerbt hätte, er bereut sie mit, denn so nur kann er sich selbst wählen, sich absolut wählen; und wenn die Tränen ihm beinahe alles auslöschten, er fährt fort zu bereuen, denn so nur wählt er sich selbst. Sein Selbst ist gleichsam außer ihm, und es muß erworben werden, und die Reue ist seine Liebe dazu, weil er es absolut wählt, aus des ewigen Gottes Hand.

Kierkegaard, Sören Aabye – Seid nicht arglistig

Es ist menschlich, Gott zu bitten, er möge Geduld haben, wenn man nicht also gleich kann, was man soll, jedoch so, dass man gelobt, danach zu streben. Es ist menschlich, Gott zu bitten, er möge Mitleid haben, dass einem die Forderung zu hoch ist: will es kein anderer von sich gestehen, ich gestehe, ich tue so. Aber das ist doch nicht menschlich, der Sache eine ganz andere Wendung zu geben, dass ich listig, immer eine Lage über der anderen, Auslegung und Wissenschaft und noch einmal Wissenschaft dazwischenschiebe (ungefähr wie wenn ein Schuljunge ein Kissen oder auch mehrere unter seinen Wams anbringt, wenn er Prügel kriegen soll), dass ich das alles zwischen das Wort und mich schiebe, und dann diesem Auslegen, dieser Wissenschaftlichkeit den Namen von Ernst und Wahrheitseifer beilege, und dann dieses Treiben zu einer solchen Weitläufigkeit anschwellen lasse, dass ich niemals dazu komme, einen Eindruck von Gottes Wort zu empfangen, niemals dazu komme, mich im Spiegel zu beschauen.

Es sieht aus, als zöge all dieses Forschen und Grübeln und Sinnen und Ergründen Gottes Wort ganz nahe an mich heran. Die Wahrheit ist, dass ich eben damit, aufs Allerlistigste, Gottes Wort so weit als nur möglich von mir entferne, unendlich viel weiter, als es dem ist, welchem vor Gottes Wort so angst und bange ist, dass er es so weit als nur möglich fortschleuderte…

Lass dich nicht betrügen – oder, sei nicht selber arglistig. Denn wir Menschen, wir sind Gott und Gottes Wort gegenüber gar so listig, selbst der Dümmste unter uns ist gar so listig – ja, Fleisch und Blut und Eigenliebe sind gar listig…

Bist du also ein Gelehrter, so gib am Ende acht, dass du nicht über allem diesem gelehrten Lesen (welches kein Lesen von Gottes Wort ist) vergessest, Gottes Wort zu lesen. Bist du ungelehrt, oh, sei nicht neidisch auf den anderen, freue dich, dass du ohne Verzug dazu kommen kannst, Gottes Wort zu lesen! Und gibt es da nun einen Wunsch, einen Befehl, dann eile flugs davon, um danach zu tun.“

Kierkegaard, Sören Aabye – Gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott?

Das Ethische ist das Allgemeine und als solches wiederum das Göttliche. Man hat deshalb recht zu sagen, daß jede Pflicht im Grunde Pflicht gegen Gott ist; aber wenn man nicht mehr sagen kann, so sagt man zugleich, daß es eine Pflicht gegen Gott eigentlich nicht gibt. Die Pflicht wird Pflicht dadurch, daß ich sie auf Gott beziehe; aber durch die Pflicht selbst trete ich in kein Verhältnis zu Gott. So ist es z. B. Pflicht, seinen Nächsten zu lieben. Es ist Pflicht dadurch, daß es auf Gott bezogen wird; aber in der Pflicht trete ich nicht in ein Verhältnis zu Gott, nur in ein Verhältnis zu dem Nächsten, den ich liebe. Sage ich also in diesem Zusammenhang, daß es meine Pflicht ist, Gott zu lieben, so ist das eigentlich nur eine Tautologie, soweit ,,Gott“ hier in einem ganz abstrakten Sinne als das „Göttliche“, d.h. das „Allgemeine“, d.h. die „Pflicht“ genommen wird. Das gesamte Dasein des Menschengeschlechts rundet sich auf diese Weise wie eine Kugel in sich selbst ab; und das Ethische ist zugleich das Begrenzende und das Ausfüllende. Gott wird zu einem unsichtbaren verschwindenden Punkt, zu einem ohnmächtigen Gedanken; seine Macht liegt nur in dem Ethischen, das das Dasein vollkommen ausfüllt.

Sofern also jemand auf den Gedanken kommen sollte, Gott auf eine andre als die hier angegebene Weise zu lieben, ist er überspannt. Er liebt ein Phantom, das ( wenn es nur soviel Kraft besäße, daß es reden könnte) zu ihm sprechen würde: „Ich begehre deiner Liebe nicht, bleibe nur da, wohin du gehörst. Sofern jemand auf den Einfall kommen sollte, Gott anders zu lieben, würde diese Liebe verdächtig werden – wie die Liebe etwa, von der Rousseau redet: die Liebe, mit der ein Mensch die Kaffern liebt, statt seinen Nächsten zu lieben.

Kierkegaard, Sören Aabye – Der Missbrauch der Gelehrsamkeit

Trauriger Mißbrauch der Gelehrsamkeit! Daß es den Menschen so leicht gemacht wird, sich derart selbst zu betrügen! Denk dir ein Land. Es geht ein königliches Gebot aus an alle Beamten und Untertanen, kurz an die ganze Bevölkerung. Was geschieht?

Es geht mit allen eine merkwürdige Veränderung vor: alles verwandelt sich in Ausleger, die Beamten verfassen Schriften, jeden Tag erscheint eine Auslegung, die eine immer gelehrter, scharfsinniger, geschmackvoller, tiefsinniger, einfallsreicher, wundervoller, schöner und wunderbar schöner als die andere; die Kritik, welche die Übersicht geben soll, behält kaum die Übersicht über diese ungeheure Literatur – alles ist Auslegung. Niemand aber hat das Königsgebot dergestalt gelesen, dass er danach täte…

Was meinst du nun, wird dieser König von dergleichen denken? Ob er nicht sagen würde: dass sie dem Gebot nicht nachkommen, das könnte ich ihnen immerhin verzeihen. Fernerhin, falls sie eine Bittschrift bei mir einreichten, dass ich Geduld mit ihnen haben, oder sie vielleicht ganz verschonen möge mit diesem Gebot, das ihnen so schwer falle: ich könnte ihnen verzeihen. Das aber kann ich nicht verzeihen, dass man sogar den Gesichtspunkt für das, was Ernst ist, verschiebt.

Kierkegaard, Sören Aabye – Der höchste Reichtum

Dieser Weg, der der „der Weg“ ist, wird selten besprochen, betreten, angepriesen! Ach, in der Welt ist es beinahe, als sei er nicht vorhanden, in der Welt hat man ja auch keine Vorstellung davon, daß das eben Reichtum ist, nicht selber reich zu werden oder zu sein, sondern andere reich machen zu können! Jener wunderliche Weg zum Reichtum ist vorhanden!

Denke dir unseren Heiland Jesus Christus! Er war arm, er machte aber doch andere reich! Und sein Leben drückt ja niemals etwas Zufälliges aus, daß er nur zufälligerweise arm war. Nein, sein Leben ist die wesentliche Wahrheit und zeigte deshalb, daß, um andere reich zu machen, man selbst arm sein müsse. Dies ist der Gottheit Gedanke, von dem menschlichen verschieden, dem „reichen Mann“, der andere reich macht.

Er aber war arm, solange er hier auf Erden lebte, darum war sein Werk, solange er lebte, jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick, andere reich zu machen! Selbst arm, gab er sich der Arbeit hin – andere reich zu machen, und gerade dadurch, daß er arm war, gab er sich ihr ganz hin. Er stieg nicht vom Himmel herab, um arm zu werden, er stieg aber herab, um andere reich zu machen. Aber um andere reich zu machen, mußte er arm sein. Er wurde arm, das war sein eigener, freier Entschluß, seine Wahl.

Keller, Samuel – Über das Geben

Es ist lange her, daß ich anfing, von jeder Einnahme den zehnten Teil in eine besondere Kasse abzulegen, aus der ich dann die an mich herankommenden Zwecke bedenken konnte. Damals kam ich mir sehr wohltätig und gebefreudig vor. Da machte ich eine Reise zu einem großen Missionsfeste und wurde als auswärtiger Missionsgast von einer wohlhabenden Witwe beherbergt. Wir unterhielten uns auch über das Geben, und ich sagte sehr selbstbewußt, daß ich streng den Zehnten gebe. Meine Wirtin aber lächelte fein und meinte: „Da geben sie aber für ihre Verhältnisse nicht sehr viel. Ich verbrauche für mich nur einen Zehnten meines Einkommens, und neun Zehnte opfere ich auf die verschiedenste Weise dem Herrn.“ Das warf meine ganze Theorie über den Haufen und ich konnte erst gar nicht über dergleichen Wohltätigkeit zur Ruhe kommen. bis ich erfuhr, daß dieselbe Dame, die kinderlos war, fast 10000 Mark an Staats- und Kommunalsteuern zu zahlen hatte! Dann war ihr Zehnter zum Leben noch reichlich genug.

Man sieht aus diesem Beispiel, wie falsch es wäre, allgemeine Regeln derart aufstellen zu wollen, als müsse jeder Christ den Zehnten geben. Unsere Verpflichtungen zum Aufwand sind bei gleichem Einkommen sehr verschieden. Die Unterstützungen, die wir unseren Verwandten und Angehörigen zuteil werden lassen, weichen bei den einzelnen weit voneinander ab. Der eine hat fünf Kinder, der andere nur eins oder keine. Der eine hat eine sparsame, kräftige Frau, und der andere eine kränklichere, die weniger Hausarbeiten selbst tun kann – kurz, all solche Nebenumstände machen es eigentlich ganz unmöglich, eine feste Regel aufzustellen.

Den Rat aber würde ich doch den meisten meiner Leser geben, es mal selbst mit dem Zehnten für die regelmäßig wiederkehrenden und vorauszusetzenden Zwecke so zu machen, daß sie immer bei der Einnahme gleich den Zehnten weglegen. Reicht diese Kasse nicht, so kann man ja immerhin noch etwas Besonderes dazutun…!

Man macht die Erfahrung, daß Geschwister, die sich dieses regelmäßige, treue Geben angewöhnt haben, immer eine offene Hand haben für des Herrn Werk und für des Bruders Not. Wo aber keine Ordnung ist im Geben, da verengt sich das Herz und man täuscht sich selber über seine Anteilnahme am Werk des Herrn.