Legion ist die Zahl derer, die überall nur zu kritikastern, zu nörgeln und zu mäkeln wissen, die mit schauerlichem Scharfsinn an allen Menschen und Menschenwerken die schlechte Seite herauszufinden wissen. O wer etwas von diesem dämonischen Genie, von dieser lieblosen Menschenkenntnis in sich trägt, der trete ritterlich ein in den täglichen Kampf gegen diesen bösen Geist und lasse nicht ab, bis er ihn ausgetrieben hat. Sonst wird ihn einmal zermalmen das Wort: „Mit dem Maß, womit du missest, wird dir gemessen werden.“
Göttlich und also auch menschlich und also erst recht christlich ist es, alles zum Besten zu kehren, bei jedem Ding, solange es irgend möglich, die gute Seite herauszufinden, an jedem verkommenen Menschen so lange herumzusuchen, bis man endlich eine weiche Stelle findet, wo er noch für Liebe und Wahrheit empfänglich ist, den schlechtesten Handlungen gegenüber, wenn auch nicht eine Entschuldigung, so doch eine mildernde Erklärung zu suchen. Unser Heiland als der König der Liebe verstand diese Kunst aller Künste wie kein anderer, das versteht sich. So deckt er die Ehebrecherin mit seinem Liebesschild und treibt doch zugleich den Haß gegen die Sünde in ihr Herz hinein. So kann er, zertreten von der Menschheit, die niemals so sündigte wie jetzt, dennoch etwas zu Gunsten der Menschen sagen: „Sie wissen nicht, was sie tun“ und er macht daraus den Schluß, daß sie noch für die Gnade fähig und also nicht reif seien für das verderbende Gericht.
Die Liebe der Jünger Christi kommt der des Meisters nicht gleich. Sie ist abgeleitet und in unreine Kanäle hineingeleitet. Aber sie ist doch auch abgeleitet in ihre Herzen, und eine Ähnlichkeit des Christussinnes muß sich bei ihnen finden lassen, gleichviel, welches Temperament sie von Natur aus haben. Die natürliche Milde, Güte und Freundlichkeit des Herzens ist ja ohne Zweifel eine köstliche Mitgift fürs Leben. Es ist aber große Gefahr vorhanden, daß sie zur Weichlichkeit, zur charakterlosen Schwäche wird, die schließlich gerade und ungerade, gut und böse nicht mehr zu unterscheiden vermag. Wer aber an den Stufen des Gnadenthrones die Lindigkeit Jesu Christi als himmlische Gnade empfangen hat, der wird mit seiner Liebe heiligen Ernst verbinden, der wird nicht nur die guten Seiten an seinen Mitmenschen entdecken, sondern auch die schlechten. Und er wird sie nicht nur entdecken, sondern auch ehrlich aufdecken, aber mit der Träne des liebenden Mitleides in seinem Auge, mit dem heilenden Balsam in seiner Hand.
Letzthin las ich von einer Dame, die einer Prostituierten nachgegangen war. Dieses unglückliche Mädchen war früher von ihr aufs ernstlichste gewarnt worden. Es hatte alles nichts geholfen. Jetzt fand unsere Samariterin die frühere Dienerin in Samt und Seide und in Verzweiflung und Elend. Was hat ihr nun die Dame gesagt? „O du arme, arme Marie, wieviel Mühe machst du deinem Heiland, dich zu retten; wieviel Schmerzen machst du dir selbst, ehe du zur Freude Gottes kommst! Du hast immer nach Liebe gehungert und hast sie nur auf falschen Wegen gesucht. Aber jetzt ist deine Stunde gekommen, wo du Jesusliebe finden sollst.“ Und sie nahm die Tiefgefallene mütterlich an die Hand, und diese ließ sich führen, und bald konnte man singen und sagen: „ Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden!“
Diese Frau war in den Fußstapfen Christi. Es ist keine Frage: Einfluß auf das Menschenherz, dauernden, veredelnden, überwindenden Einfluß haben nur diejenigen Menschen, die davon tief durchdrungen sind, daß die himmlische Liebe allmächtig und daß jedes Herz für diese allmächtige Liebe empfänglich ist, und die nun an den erstarrten Herzen das Türlein suchen, dadurch der Liebes-Sonnenschein hereinfallen kann. Das müssen sich alle Seelsorger, ja alle Pädagogen in der ganzen Welt merken. Die scharfsinnigen Kritikaster, die lieblosen Nörgler mögen an Holz und Stein, allenfalls noch an Katzen, Hunden und Affen ihre Versuche machen. Menschenherzen sindf ür ihre Künste zu schade.